Rolf Haufs
Tückische Stille
Über „Jeden Tag“ von Rolf Haufs
Acht schlichte Zeilen, ein Augenblick des Nachdenkens über die zum Überdruß bekannten täglichen Nachrichten. Wenige Sätze, die sich sperren gegen das, was wir als objektive Informationen und als Politik zu verbuchen gewohnt sind. Gebrochene Zeilen, deren stille Dynamik durch die Titelzeile gesteigert wird, die unsichtbar vor jeder folgenden Zeile steht: Jeden Tag. Auf die Umstände des skizzierten Ereignisses, eine Tötung mit den üblichen Mitteln, kommt es weniger an als darauf, daß es sich in ähnlicher Weise täglich wiederholt.
Zwischen Sterben und Hier ist das Gedicht geteilt in zwei Blöcke, zwei Welten. Die ersten vier Zeilen weisen auf das ferne Ereignis. In denkbarer Kürze wird die übliche Spirale der Gewalt samt ihrer medialen Verwertungen umrissen: da fällt einer, kann nicht entkommen, liegt in seinem Blut, sterbend – und schon beobachtet, erfaßt von Fotografen. Nur dessen Anwesenheit deutet auf Krieg oder eine soziale Auseinandersetzung, denn zu gewöhnlichen Morden werden keine Fotografen geschickt. Das Opfer, der Mann … mit seinem Blut, der Gefallene, Geschlagene, Getötete, wird weiter verwertet, katalogisiert, gezählt, abgehakt von denen, die Bescheid wissen oder Bescheid zu wissen meinen über Täter und Opfer in vieler Welt.
Die letzten Zeilen umreißen das Hier, die weniger gefährliche Welt, einen Garten im Juni, ein Neugeborenes in der Nähe. Hier stößt das ferne Opfer vielleicht ein Gewissen an – oder auch nicht. Was kommt an gegen die Juniorgel? Der Schlaf der Neugeborenen darf nicht gestört werden. Die Anrede, die heftige Bitte Laß. Laß ist das einzige Signal der Unruhe, ein Hinweis auf die gedankliche Verbindung zwischen weit weg und Hier, gleichzeitig ein Hinweis auf zwei oder mehr Menschen, denen das Zeitungsfoto zum Thema wird. Der oder die Angesprochene will irgend etwas tun, um die Verbindung zwischen dem, was das Foto meldet, und dem Duft Jasmin erträglicher zu machen, eine Geste, ein Einspruch.
Dann der Schlußsatz Es müßte sonst / Etwas geschehen, wie die anderen Sätze als Enjambement gebaut. Auch dies Zeilenende schließt nicht mit einem Punkt. Darum verliert der Satz einiges von seinem resignativen Klang. In dem Konjunktiv und dem punktlosen, offenen Schluß finde ich die eigentliche Provokation des Gedichts; es müßte wirklich etwas geschehen, mit einer Geste, die nur das Gewissen beruhigt, ist es nicht getan.
Rolf Haufs benennt den Widerspruch, in dem sich mitfühlende, „gute“ Menschen befnden, die keine Zyniker sein wollen. Er deutet an, daß dieser Widerspruch zwischen fernem Elend und nahem Glück oder Unversehrtheit nicht gelöst werden kann, sondern auf die oder andere Weise auszuhalten ist. Das Gedicht, ja die Kunst zehrt von diesem Widerspruch. Ganz nebenbei wird hier auf den alten Streit angespielt, der die Debatten zur Ästhetik seit der Antike ebenso belebt wie in bekannte Sackgassen geführt hat: wie reagiert die Kunst auf den Jammer der Welt?
Das kleine Gedicht gibt auf bescheidene Weise Antwort. Es versöhnt nicht mit diesem Widerspruch, es reißt ihn weiter auf. Es überfällt nicht mit versteckten moralischen Appellen. Anders als die Meinungslyrik, die den Ruf des politischen Gedichts ziemlich ruiniert hat, zeichnet sich Haufs‘ Gedicht gerade dadurch aus, daß weder ein konkreter Anlaß genannt noch eine Meinung verkündet wird. Es bleibt auf kunstvolle Weise offen, ein politisches Gedicht ohne politische Aussage, aber voll tückischer Stille und Unruhe. Ein Zeitgedicht, das zu allen Brennpunkten paßt: Sarajevo oder Sivas, Solingen, Somalia und zur Schlägerei an der Ecke. Die Bilder stören, die Gestörten behelfen sich mit der Formel vom „unfassbaren“ Geschehen. Aber dieses Gedicht faßt es, die Irritation ist nicht mehr rückgängig zu machen, der Boden schwankt, jeden Tag.
(Aus: Frankfurter Anthologie 17. Hg. von Marcel Reich-Ranicki. Insel Verlag, Frankfurt 1994)