Günter Grass
Günter Grass, der eigensinnige Citoyen
Zugegeben, über Günter Grass ist alles gesagt, fast alles. Publizistisch ist er allgegenwärtig, weil nicht allein seine Bücher seit vierzig Jahren kontrovers gefeiert oder kontrovers attackiert werden, auch fast jede seiner Äußerungen als homo politicus zog und zieht größre Resonanz und deftigen Widerspruch auf sich. Bei keinem anderen Künstler hierzulande ist der Spannungsbogen der Wertschätzung so groß: zwischen Olymp und Todesdrohungen von Nazis. Unbestritten der Rang, den zumindest „Die Blechtrommel“, „Hundejahre“ und „Katz und Maus“ in der gegenwärtigen Weltliteratur einnehmen – und doch hat ihr Autor es geschafft, das zu bleiben, was man in Deutschland mit dem kreuzbraven Euphemismus „umstritten“ bezeichnet.
Die singulären literarischen Leistungen von den „Vorzügen der Windhühner“ bis zu den unterschätzten „Unkenrufen“ und dem überdüngten „Weiten Feld“, das vierzigjährige Pro und Contra, das Auf und Ab emotionsgeladener Rezeption, die Berge von Sekundärliteratur, die ungezählten Debatten, Polemiken und Interviews von und mit und gegen und über Grass können hier nicht resümiert werden. Lieber möchte ich zu seinem 70. Geburtstag auf eine Lebensleistung aufmerksam machen, die noch wenig gewürdigt ist.
Was im Hin und Her zwischen Verehrung und Verachtung unterschätzt wird, sind Tugenden, die im hektischen Kulturbetrieb immer seltener zu finden sind und in der Person von Grass ihren vornehmen Ausdruck finden: Ich meine seine soziale, seine demokratische, seine freigiebige Natur. Das beginnt, mit Verlaub, bei dem Familien-Patriarchen, dem Koch und Skatspieler und hört beim Autoren-Förderer, Roma- Sympathisanten, literarischen Botschafter und politischen Redner noch lange nicht auf. Seine Lust, sich ins Gesellschaftliche zu mischen, seine Großzügigkeit und seine Fähigkeit, auch als Mann der Öffentlichkeit Bescheidenheit zu wahren – all das kommt aus einer Quelle: Lebenslust, Schaffenslust. Ein Menschenfreund, ein Gruppenfreund, das ist nicht selbstverständlich unter Künstlern.
Wer als Autor früh in den höchsten Ruhm hinaufkatapultiert wird und sich des Ruhms und seiner materiellen Erfreulichkeiten sicher sein kann, hat zwei Möglichkeiten: sich abgrenzen, unantastbar, elitär werden – oder: immer wieder Bodenkontakt, Gesellschaft suchend, streiten, sich einmischen. Grass hat, seinem Temperament folgend, den zweiten Weg gewählt. Ein Verdienst, von dem die Öffentlichkeit mehr profitiert hat als sie je zugeben wird.
Grass als Gesellschafter, man könnte ihn in der Mitte dreier konzentrischer Kreise sehen. Der erste ist die Großfamilie. Der zweite die literarische Zunft. Unter Schriftstellern sind mir wenige begegnet, die so viel kollegiale Sympathie ausgeteilt haben wie er. Als Berlin-Friedenau mit ihm, Johnson, Enzensberger, Frisch, Nicolas Born ein Zentrum der Deutschen Literatur war, ist kein Haus so offen gewesen wie seines, wurde nirgends mehr disputiert und vorgelesen und gefeiert als in der Niedstraße 13.
Bei der Gruppe 47 hat kaum einer so konstruktive, also handwerkliche Kritik geübt wie er. Als die Gruppe aufhörte, initiierte er ähnliche Treffen in kleinerem Kreis – in den siebziger Jahren sogar in Ost-Berlin. Später stellte er sein Haus in Wewelsfleth für Berliner Autoren zur Verfügung und stiftete den Alfred-Döblin-Preis. Ein guter Vermarkter seiner selbst, hat der Kollegen stets angehalten, sich und ihre Ware möglichst teuer zu verkaufen. Kein Schriftsteller, außer Walter Höllerer, hat so viel getan für die Berliner Kultur wie Grass, nicht nur als Präsident der Akademie der Künste. Als stiller oder, wenn nötig, lauter Anwalt für verfolgte Autoren in Ost und West war auf ihn immer Verlaß.
Manche sehen in seiner Kollegialität den Versuch, Gefolgschaft um sich zu scharen, Kompensation der Eifersucht auf mögliche Konkurrenz. Nein, hier lebt er die einzige Utopie aus, die er sich gönnt: ein, zwei, viele „Treffen in Telgte“. Und trotz seines Talents zum Patriarchen ist er zu neidloser Anerkennung fähig und wettert lieber – oder schweigt -, als sich gönnerhaft zu geben. Auch in kleiner Runde bleibt er ein eigensinniger Anti-Egoist.
Mit seinem Rat geizt er nicht. Als ich ihn das erste Mal traf, 1964, sagte er: „Hören Sie auf zu studieren, werden Sie Kellner, dann lernen Sie das Leben kennen, dann werden Sie auch was zu schreiben haben!“ Ich habe den Rat fröhlich in den Wind geschlagen. Er meinte nicht mich, sondern die Verbesserung der Literatur durch Lebensnähe und den Blick von unten. Kein falsches Konzept – ihm ging es um die Sache, das Ergebnis, nicht um die Person.
Daher rührt seine manchmal knurrige Noblesse, mit der er auch im dritten Kreis als Redner, Essayist und Interviewpartner auftritt: Die Sache, das große Ganze der Humanität im Blick, und doch einem Sinn für Details und einem Pragmatismus verschrieben, der zu beinah jedem benannten Problem eine Lösung vorzuschlagen hat, mal listig, mal grob. Wie arm wäre die Republik, wenn Grass sie nicht seit dem Mauerbau 1961 mit seinen Einsprüchen und Widersprüchen begleitet hätte!
Heute ist kaum noch zu ermessen, welchen Anteil am geistigen Aufbruch der sechziger Jahre der Mann hatte, der die Sinnlichkeit in die Nachkriegsliteratur einführte (neben Arno Schmidt und beherzter als der), mit der „Blechtrommel“ auch zur sexuellen Entkrampfung beitrug und die Politik zu erotisieren verstand: „Dich singe ich Demokratie.“ Der sich nicht scheute, wochenlang bis in die katholischsten Winkel der Republik reisend für die SPD zu werben und die größte Anstrengung auf sich zu nehmen, die die Politik erfordert: stets die gleichen Argumente, die gleichen Sätze wiederholen zu müssen. So wurde er ein Rhetoriker, der beim Erzählen die Rhetorik immer wieder verlernen mußte.
Er hat sich, und das ist weniger bekannt, nicht abhalten lassen, zu Anfang der Studentenbewegung im SDS zu diskutieren und im Audimax der Freien Universität zur Mäßigung aufzurufen. Wie kein anderer hat er sich doppelt angreifbar gemacht, indem er gleichzeitig staatstragend und gesellschaftskritisch war. Der dornige Weg der Sozialdemokraten: Den einen viel zu wenig radikal, den anderen viel zu radikal. Tapfer kämpfte er gegen Radikalität und Ideologie rechts und links und in der Mitten. Feinde und Ärger gab es genug, auch weil er, zuweilen schnell und barsch im Urteil, mit der Sturheit des Steinmetzen bei einmal gemeißelter Meinung blieb. Auch ich habe seinen Ansichten nicht immer folgen können – zuletzt in der Debatte um die deutsche Vereinigung und um die Rechtschreibreform. Aber: wie dürftig wären diese Diskussionen gewesen ohne die Argumente von Grass! Und wie dankbar ist man immer wieder, wenn er, wie jüngst in einem Interview, griffige Formeln für die alltäglichen Skandale findet: „Die neuen Asozialen in den Chefetagen.“
Ich rechne all dies zu den Vorzügen seiner demokratischen Natur, weil Grass, selbst wenn er mit lutherischer Wucht rhetorisch wird, nie aus politischem Ehrgeiz oder aus Eitelkeit, sondern mit väterlicher Strenge spricht. Man könnte ihn einen modernen Vater des Grundgesetzes nennen. Das wird gern übersehen von Leuten, die ihm, zu Recht oder Unrecht, vorwerfen, an diesem oder jenem Punkt unrecht (gehabt) zu haben. Als käme es darauf an! Entscheidend ist die zivile Courage, mit der da ein Citoyen sich stellt, im Sinn einer praktischen Vernunft der Humanität sich wehrt, für andere spricht und Vorschläge macht.
In diesen vierzig Jahren hat sich die Gesellschaft stärker gewandelt als Grass. Bis weit in die sechziger Jahre hinein war der politische Autor gefragt, der gesellschaftliche Probleme und Skandale zur Sprache brachte. Heute, bei dem allgemeinen Überdruß am Überfluß von Informationen, werden die Leute eher verspottet, die sich über (angeblich) sattsam bekannte Probleme und Skandale noch aufregen. Erklärungen mag man nicht mehr hören. Erklärungen von Schriftstellern schon gar nicht. Grass tut es um so trotziger, je mehr er den giftigen Rechthaberton und die flotte Häme des Zeitgeistes zu spüren bekommt, die ausgerechnet ihn, den milden Menschenfreund, zum Buhmann macht. Es verbittert ihn, daß die publizistische Öffentlichkeit von „Moralpolitik“ nicht mehr viel hören mag und der Verdrängungswettbewerb von Meinungen, unbesehen von Fakten und Argumenten, immer gnadenloser geführt wird.
Unlängst habe ich mich in Mainz in eine seiner Lesungen geschlichen. Der Mann, der in jeder Kneipe erkannt und auf Bahnsteigen angepöbelt wird, bot dem Publikum den gewohnten souveränen Auftritt. Dann aber antwortete er, auf der Bühne stehend, eine Stunde lang auf Fragen, geduldig und freundlich, ohne Anbiederung und Überheblichkeit. Er warb nicht für Grass, sondern warb um jeden einzelnen im Saal, er warb um die Sache der Literatur. Ich wünschte, seine Verächter sähen ihn einmal bei dieser Arbeit. Wir profitieren alle davon: Autoren, Kritiker, Leser – sogar die, die ihn nicht lesen.
(Der Tagesspiegel, 16.10.1997)