Friedrich Christian Delius, FCD

Buch: Der Spaziergang von Rostock

Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus
Erzählung

Reinbek, Rowohlt-Verlag
160 S., HC
€ 14,00 / sFr 25,30
ISBN 978-3-498-01302-8

rororo taschenbuch Werkausgabe
160 Seiten, € 8,99 [D]
ISBN 978-3-499-25993-7

Rowohlt Taschenbuch Großdruck.
rororo 33249
€ 8,90
ISBN 978-3-499-33249-4

Übersetzungen ins
– Dänische (En fodrejse fra Rostock til Syrakus. Forlaget Hovedland 1997. Ü: Niels
Brunse)
– Italienische (La passeggiata da Rostock a Siracusa. Sellerio Editore, Palermo 1998.
Ü: Dina Trapassi)
– Spanische (El paseo de Rostock a Siracusa. Sajalín Editores, Barcelona 2010.
Ü: Lidia Álvarez Grifoll)

Schulbuchausgabe: Schroedel Verlag, Braunschweig, 2004


„In der Mitte seines Lebens, im Sommer 1981, beschließt der Kellner Paul Gompitz aus Rostock, nach Syrakus auf der Insel Sizilien zu reisen. Der Weg nach Italien ist versperrt durch die höchste und ärgerlichste Grenze der Welt, und Gompitz ahnt noch keine List, sie zu durchbrechen. Er weiß nur, daß er die Mauern und Drähte zweimal zu überwinden hat, denn er will, wenn das Abenteuer gelingen sollte, auf jeden Fall nach Rostock zurückkehren.“ So beginnt F. C. Delius‘ Chronik eines ungewöhnlichen, schweijkschen Abenteuers aus unserer Zeit.
Nach siebenjähriger Vorbereitung gelingt es dem Kellner im Juni 1988, mit einer Jolle von Hiddensee aus die Seegrenze der DDR zu überqueren und nach Gedser in Dänemark zu segeln – ein „einfacher Grenzdurchbruch“, wie Gompitz meint, Vergehen gegen § 213 Abs. 1, weil nicht in Gruppe und nicht unter Mitführung gefährlicher Gegenstände bewerkstelligt und auch keine Grenzanlagen beschädigt wurden. Delius erzählt von der Mühsal der Vorbereitungen, von der Hartnäckigkeit, wie Gompitz das Segeln lernte, sein Boot tarnte, auf tragikomische Weise versuchte, Geld in den Westen zu schaffen, wie er gegen jede Gefahr eine List fand, immer etwas schlauer als die Staatssicherheit, alles ohne Mitwisser. Einfach auf sein Recht auf eine Bildungs- und Pilgerreise pochend, auf den Spuren Johann Gottfried Seumes, dessen „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ er seit Jugendzeiten im Kopf hat, von Triest über Terni und Rom bis zum Ziel seiner Reise, Syrakus. Doch zunehmend, wir schreiben Oktober 1988, ein Jahr vor dem Fall der Mauer, irritiert ihn die Frage: „Wie kommst du am besten wieder zurück?“ – und er schafft auch das mit List und Tücke.

Rezensionen

Weitere Pressestimmen

Rostock – Syrakus und zurück

Erzählung von Christian Friedrich Delius über eine unwahrscheinliche Reise

Nachdem Friedrich Christian Delius 1991 sein Buch „Die Birnen von Ribbeck“ veröffentlicht hatte – erzählt wird darin vom großspurigen Auftreten Westberliner Besucher im havelländischen Ort Ribbeck nach der Öffnung der Mauer -, musste er sich heftige Vorwürfe anhören: Die „neuen Bundesbürger“ könnten für sich selbst sprechen, hieß es. Es sei eine Anmaßung, daß Delius, der Westdeutsche, eine solche Geschichte erzähle. Heinz Czechowski beschuldigte ihn der „Usurpation eines DDR-Themas“. Und der Kritiker Reinhard Baumgart sprach gar von einem „Akt der Kolonisierung“, schließlich gebe es „genügend Autoren, die auf die jüngsten Veränderungen nicht von der Zuschauertribüne aus reagieren müssen“.
Ein groteskes Argument: Demnach hätte aber über Nazideutschland nur schreiben dürfen, wer dort auch gelebt hatte (Anna Seghers und Bertolt Brecht jedenfalls nicht). Und auch Dantes „Göttliche Komödie“ wäre danach nicht geschrieben worden, war der Autor doch niemals in der Hölle. Nein, erzählen kann jeder über jedes Thema – wenn er es kann.
Delius jedenfalls ist es in seinem jüngsten Buch „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ gelungen, dem Leser die Geschichte eines DDR-Bürgers so glaubhaft und spannend zu erzählen, daß niemand den Autor nach seinem Personalausweis fragen wird. In dem steht übrigens, dies zur Irritation literarischer Grenzwärter, Rom als Geburtsort.
Der Kellner Paul Gompitz aus Rostock lebt gut, verdient gut. „Alles kannst du aushalten, die leeren Geschäfte, die kaputten Dächer, die dreckigen Bahnen, den Gestank des Sozialismus, aber was du nicht aushalten kannst, daß sie dich einsperren für immer, daß du nie was sehen wirst von der Welt, unter dieser Last kannst du nicht leben.“
So sagt sich Paul Gompitz und beschließt, die DDR für eine Weile zu verlassen; legal, wenn es sich machen läßt, und sonst eben illegal. Seit seiner Jugendzeit, seit er Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ gelesen hat, möchte er einmal im Leben nach Sizilien. Doch der „abgestürzte Intellektuelle“, der als Wehrdienstverweigerer vom Studium ausgeschlossen wurde und seitdem von der Staatssicherheit beobachtet wird, erhält keine Reisegenehmigung. Alle seine Anträge werden abgelehnt.
So plant er denn sieben Jahre lang seinen Grenzübertritt, ohne irgend jemanden einzuweihen, nicht einmal seine Ehefrau, die er nicht in Konflikte bringen will. Schließlich möchte er sie ja nicht verlassen, sondern nur ein paar Monate verreisen. Da er mit dem Boot über die Ostsee nach Dänemark will, lernt er Segeln, kauft ein kleines Boot und schafft, da er auf seiner Reise nicht von Almosen leben will, seine ersparten Devisen nach und nach in den Westen.
Das alles jedoch ist, zumal er mit ständiger Bespitzelung rechnen muß, mit hunderterlei Schwierigkeiten verbunden, die ihn jahrelang in Atem halten. Außerdem plant er seinen illegalen Grenzübertritt so, daß er nicht wegen „schweren“, sondern nur wegen „einfachen Grenzdurchbruchs“ belangt werden kann. Er will ja nach seiner Reise unbedingt wieder nach Rostock zurück.
So unwahrscheinlich es klingt: Der Plan gelingt, Gompitz segelt im Juni 1988 in den Westen, reist durch die Bundesrepublik nach Italien, nach Syrakus, und kommt im Oktober zurück. Er wird an der Grenze festgenommen, verhört und nach einigen Wochen Aufenthalt im Aufnahmelager Röntgental bei Berlin nach Rostock entlassen. Ein Strafverfahren wird nicht eingeleitet.
Diese Geschichte, so märchenhaft sie erscheint, ist keineswegs erfunden. Sie hat sich genau so abgespielt, wie Delius sie erzählt hat. Nur die Namen sind verändert, der real existierende Italienreisende heißt Klaus Müller, und seine Ehefrau ist Ärztin, nicht, wie bei Delius, Bibliothekarin. Doch nicht das ist für das Buch ausschlaggebend; über seinen Wert entscheidet nicht, ob darin die sogenannte „Realität“ mit der Erzählung deckungsgleich ist. Wichtiger ist, daß der Erzähler hier eine Figur sei es nachgezeichnet, sei es erfunden hat, die ihre eigene Glaubwürdigkeit besitzt.
Dieser Gompitz, eine Ausnahmegestalt ohne Zweifel, macht gerade im Extrem vieles von dem deutlich, was die Menschen in der DDR bewegt hat und von dem man sich im Westen nur schwer eine Vorstellung machen kann. Delius hat genau recherchiert, er hat sich, ohne sie zu bevormunden, in seine Figur hineinversetzt, hat ihr seine Stimme gegeben. Und er hat eine spannende Geschichte geschrieben, die den Leser in Atem hält und die dazu noch gut ausgeht. Das darf doch auch einmal sein?

(Jürgen P. Wallmann, Rheinische Post, 28.10.1995)

Von den unbotmäßigen Spaziergängen einer deutschen Idealfigur

F.C. Delius‘ unterhaltsame Chronik eines illegalen Grenzübertritts aus der DDR

Es gab auch in der DDR einen Hauptmann von Köpenick, es gab einen Kellner in Rostock: Paul Gompitz mit Namen. Als Friedrich Christian Delius die Geschichte dieses Gompitz hörte, muß er sofort elektrisiert gewesen sein: sie eignet sich für eine historische Chronik, für eine Literatur mit Moral und dem Typischen, das im individuellen Fall aufscheint.
Paul Gompitz gefiel es in seiner Heimat. Die DDR war für ihn, den gebürtigen Sachsen, vor allem die Landschaft Mecklenburgs, die Kumpel in den Rostocker Kneipen, die Ostsee mit ihrem herben Charme.
Doch der ständige Blick auf die Ostseewellen vermittelte ihm auch eine ungebärdige Sehnsucht nach Ferne, nach Aufbruch, und so entwickelte sich seine fixe Idee: wie weiland sein sächsischer Landsmann Seume wollte er einmal nach Syrakus, ins Land der Verheißung – nur einmal nach Sizilien, aber dann wieder in die DDR zurück. Und weil die DDR ihm nicht glauben würde, daß er wieder zurückkehrte, mußte er sich nach anderen Möglichkeiten umsehen, seine fixe Idee auf illegale Weise in die Tat umsetzen.
Gompitz braucht sieben Jahre, um seinen Plan auszufeilen: er lernt Segeln, stimmt seine Jobs als Kellner, die er im Sommer an der Ostsee annimmt, mit den Möglichkeiten zu segeln ab, verfolgt gegen alle Widrigkeiten beharrlich sein Ziel. Er studiert Küstenbewachung und Seebewegungen, tüftelt eine Route aus, auf der in die offene See gelangen kann. Und als er eines Morgens, im Sommer 1988, im Radio hört, daß der Wind so ist, wie er es ausgerechnet hat, macht er sich an den Törn um die Südspitze von Hiddensee Richtung Dänemark.
Gompitz schafft es, durch umsichtige Planungen gelangt er tatsächlich bis Syrakus. Doch schneller, als er es sich vorher ausgedacht hat, will er wieder zurück zu seiner Frau, bleibt nicht den Winter über im Westen, verzichtet auf die Reise nach Großbritannien, sondern setzt sich in den Zug nach Rostock. Die DDR, so kleinkariert sie sich ihm in ihren bürokratischen und politischen Erscheinungsformen auch immer zeigte, verzichtet nach einigen Verhören immerhin darauf, ihn anzuklagen: Nach drei Wochen im Auffanglager für Übersiedler darf er wieder zurück zu seiner Frau.
Diese (wahre!) Geschichte ist schon als Plot so literarisch, daß sie Delius nur aufzuschreiben braucht. Er wählt den nüchternen Stil des Chronisten, bleibt immer in der Perspektive der Hauptfigur, nur aufgelockert durch kursive Dialoge im Moritatenstil, die vor jedem Kapitel kurz das ungeheure Geschehen kommentieren. Innere Gefühlswelten treten vollkommen zurück, alles steht im Dienst des Handlungsverlaufs. Es gibt keine langen Reflexionen über den Alltag in der DDR, über den Lebenslauf von Gompitz – immerhin Anhänger des Utopiebegriffs von Ernst Bloch, vielseitiger Leser und intelligenter Bastler. Gompitz ist einfach der Mann, der dies ungeheure und pfiffige Vorhaben des Grenzdurchbruchs und der Wiederkehr minuziös durchführt.
So geraten ein paar Passagen im Erzählverlauf ein bißchen zu pauschal, ein paar wenige Klischees sind im gerafften Chronistenduktus doch nicht zu vermeiden, und die Erlebnisse in Italien, das Erreichen von Syrakus halten manchmal der nüchternen Stilebene nicht stand. Dennoch ist Delius mit der Figur des Paul Gompitz eine deutsche Idealfigur geglückt: Sein Gefühl des Mangels in der DDR, seine Skepsis dem Leben in der Bundesrepublik gegenüber – was sich in der erzählten Zeit 1988 abzeichnet, wirft bereits ein erhellendes Licht auf das, was in der deutsch-deutschen Geschichte danach kam.
Gompitz steht für Menschlichkeit: bescheiden und nicht auftrumpfend, aber unbeirrbar. Daß dies in seiner unmittelbaren Erfahrung vor allem als Spleen, als etwas Abseitiges und Künstlerisches wahrgenommen wird, hat etwas Allgemeingültiges. Durch die konsequente Beschränkung des Blicks kann es sich Delius auch leisten, scheinbar naiv starre Fronten aufzuweichen: Als Gompitz dem Stasi-Verhörer sein Erlebnis auf dem Marktplatz von Mantua erzählt, die Einlösung einer alten Phantasie durch das Hören von „Rigoletto“, kann sich dieser der Suggestion nicht ganz entziehen. Delius ist hier nicht so nah bei sich wie bei seinem letzten Buch Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, als ein zeitgenössischer Erzählstoff plötzlich eine irrationale Eigendynamik entwickelte. Das Subjektive, literarisch sich Verselbständigende tritt in diesem „Spaziergang“ wieder zurück. Und doch könnte er literarisch, wie die Tat des Paul Gompitz selbst, als Schelmenstreich erscheinen.

(Helmut Böttiger, Frankfurter Rundschau, 6.1.1996)

Vorkämpfer der Reisefreiheit

Eine neue deutsche Erzählung von Christian Friedrich Delius

„In der Mitte des Lebens, im Sommer 1981, beschließt der Kellner Paul Gompitz aus Rostock, nach Syrakus auf der Insel Sizilien zu reisen. Der Weg nach Italien ist versperrt durch die höchste und ärgerlichste Grenze der Welt, und Gompitz ahnt noch keine List, sie zu durchbrechen. Er weiß nur, daß er Mauern und Drähte zweimal überwinden muß, denn er will, wenn das Abenteuer gelingen sollte, auf jeden Fall nach Rostock zurückkehren.“ Diese ersten Sätze der eben erschienenen Erzählung von Friedrich Christian Delius sagen kurz und bündig voraus, was den Leser auf den kommenden 155 Seiten erwartet: nicht nur eine abenteuerliche Geschichte, auch eine deutsche Geschichte der achtziger Jahre, wie sie das Leben schrieb oder wie sie, hätte der Autor sie ganz frei erfunden, hätte spielen können.
Ein Buch hat den Kellner Paul Gompitz verführt, das Reiseverbot seines Staates zu durchbrechen: Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“, dessen schönen Titel zwar viele Deutsche kennen, doch nur selten lesen. Gegen Hindernisse anderer Art hat der tapfere Sachse aus Perna damals seinen Spaziergang unternommen; zu Fuß, weil er der Meinung war, wer geht, erlebt „anthropologisch mehr“ als wer – wie Goethe und andere – mit der Kutsche oder dem Schiff reist.
Sieben Jahre vergehen, bis Paul Gompitz seinen Plan verwirklichen kann. Er muß seine Jolle rüsten, nautische Kenntnisse erwerben, Geld verdienen und es verstecken und verschicken. Er muß die Lücke finden, durch die er entschlüpfen kann: über die Ostsee hinüber zur dänischen Küste! Die Flucht glückt. Nun kann er über weniger bewachte Grenzen weiterreisen in die Bundesrepublik, nach Österreich; auf Seumes Fährte endlich über die Alpen hinab nach Italien mit seinen faszinierenden Stationen: Venedig, Ravenna, Terni, Rom. Er reist im Intercity oder Rapido, schließlich mit der Fähre hinüber nach Sizilien und zur Stadt Seumes und seiner Sehnsucht: Syrakus!
Auch darin gleicht Paul Gompitz seinem Vorbild: Er bestaunt nicht nur Kirchen und Tempel, Städte und Landschaften, ebenso interessieren ihn die Menschen und ihre Verhältnisse, Normalitäten und Trivialitäten, vor allem die Unterschiede zwischen seinem Land und Italien. Sogar die Polizisten sagen „Buon Giorno“, und die Mitglieder der KPI haben keine Funktionärsgesichter und feiern Feste, wie man Feste feiern soll. Nicht in Syrakus, in Mantua, Schauplatz oder Oper „Rigoletto“, wo eben auf der Piazza Verdis Musik erklingt, erlebt Paul Gompitz die schönsten Glücksmomente: „… als sei dieser Augenblick seine höchste Belohnung, als fielen erst jetzt die tieferen der vielen Grenzen gegen die er, verzweifelt oder frech, müde oder geduldig, angerannt ist.“
Die freiwillige Rückkehr – auch sie hat Paul Gompitz listig vorausgeplant -, Bestrafung und Haft fallen vergleichsweise milde aus. Er kann auftrumpfen: „Ich war in Syrakus!“ Die Menschen um ihn herum, die eingesperrten, bewundern ihn als einen „Vorkämpfer der Reisefreiheit“.
Auch Friedrich Christian Delius, der Autor, ist ganz eingenommen von seinem Protagonisten. Kennt er ihn? Saß Gompitz ihm gegenüber und hat ihm den Verlauf seines riskanten Abenteuers selbst erzählt? Delius übernimmt, obgleich er in der dritten Person erzählt, Tonfall und Sprache des Kellners Paul Gompitz; auch seine Mentalität, seine Gewitztheit, seine Kritik am Arbeiter- und Bauernstaat, der in den achtziger Jahren seiner Agonie entgegengeht. Delius übernimmt auch seine Kritik an den Verhältnissen und Menschen der westlichen Länder. Und nicht alles gefällt ihm in der freieren Bundesrepublik: „… hier muß man mitlügen und hochstapeln, wenn man aufsteigen will… fast alle haben fast alles, und trotzdem freut sich keiner so richtig am Wohlstand, alle klagen sie oder demonstrieren.
Nach seiner 1991 erschienenen, vielbeachteten Erzählung „Die Birnen von Ribbeck“ hat Friedrich Christian Delius zum zweitenmal gewagt, ein aktuelles deutsches Thema aufzugreifen und zu gestalten. So entspannt, so sicher und souverän, daß nicht nur die Leser, auch die strengsten Rezensenten diesem Spaziergang von Rostock nach Syrakus und zurück applaudieren müßten.

(Hans Bender, Deutsche Welle, 16.12.1995)

Von der Lust zu reisen

F.C. Delius über die Sehnsüchte eines DDR-Bürgers

„Ich schnallte in Grimma meinen Tornister, und wir gingen.“ Lapidarer Beginn eines berühmten Reiseberichts. Johann Gottfried Seume war 1802 wagemutig von Sachsen nach Sizilien gewandert. Seine Erlebnisse und Empfindungen hatte er aufgezeichnet und 1803 unter einem Titel veröffentlicht, der Gefahren und Beschwerlichkeiten der Reise ironisch beschönigte: „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“. Bemerkenswert an diesem Buch und einmalig unter den so zahlreichen Berichten von Bildungsreisen nach Italien ist seine Zeitkritik. In Form fiktiver Briefe schildert Seume gesellschaftliche Übelstände und beklagt Napoleons Verrat an der Französischen Revolution. Warum diese literaturhistorische Exkursion? Weil Delius mit seiner neuen Erzählung „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ an Seume anknüpft.
Wenn es in der DDR eine Verordnung gab, die für diesen Staat symptomatisch und für seine Bewohner besonders unerträglich war, dann das Reiseverbot, mit dem das Regime seine Bürger an die Kandare nahm. Delius erzählt vom Kellner Paul Gompitz aus Rostock, dessen unstillbare Sehnsucht nach einer Reise umso größer wird, je mehr Schikanen er bewältigen muß. Dabei will er gar nicht wegbleiben, sondern wieder zurückkehren. Das System freilich zeigt kein Verständnis für seine Reisepläne. Eine ganz bestimmte Reise ist es, die er längst im Kopf hat: Auf Seumes Spuren will er nach Syrakus und zurück. Hartnäckig und listig trifft Paul über Jahre hinweg seine Reisevorbereitungen: Er lernt segeln, organisiert eine Jolle, schafft Westgeld auf die Seite, wechselt die Jobs für seinen Vorsatz, tarnt seine Absicht vor seiner Frau, trickst die Staatssicherheit aus… Und kurz vor der Wende segelt er tatsächlich nach Dänemark davon, um per Bahn nach Syrakus zu fahren. Wahrlich, kein Spaziergang dorthin – und zurück; denn Pauls „Bildungs- und Pilgerreise“ endet tatsächlich wieder in Rostock.
Delius‘ fast karge Prosa dokumentiert in dieser novellistischen Erzählung nüchtern die tragikomische Geschichte seines Helden, der reisen wollte, um bleiben zu können. Und der damit unfreiwillig zu einer Art Schwejk avancierte, der auf seine Weise mit dazu beitrug, daß sich das Volk bald darauf seines Staates entledigte, der ihm die Welt vorenthielt. Aber was hat Pauls Spaziergang mit jenem von Seume zu tun? Nun, Pauls freier Entschluß zu diesem Gang ähnelt Seumes Wanderung, die dieser auch als Selbstbefriedigung erlebt, und der Spaziergang nach Syrakus ist für Paul gleichsam ein Symbol dafür. Die Kraft einer literarischen Idee setzt Phantasie und Energie frei, die Pauls Hindernislauf vor seiner Fahrt und der eigentlichen Reise erst zum Erfolg verhelfen.
Wieder übt sich Delius in der „Kunst, in anderer Leute Köpfe zu denken“, wenn er Pauls Ängste und Träume, Wünsche und Sehnsüchte, Erlebnisse und Beobachtungen in dessen naiver Unerschütterlichkeit, lebenspraktischer Tüchtigkeit und mit dessen durchaus kritischem Sinn für Realitäten glaubhaft macht. Paul wird wie sein „Vorgänger“ Seume zum – allerdings eher unfreiwilligen – Kommentator der Lebensverhältnisse hüben und an der Lebensbedingungen drüben. Und auf beiden Seiten führt der Spaziergang durch Bereiche der Wirklichkeit, die als Satire oder Groteske Bestandteil einer kritikwürdigen Realität sind, die eine Natur wie Paul gewieft bewältigen und damit gelassen ertragen kann.
Man könnte gegen das Buch einwenden, es erscheine mit reichlicher Verspätung; denn was solle jener Blick zurück auf die Komik und Tragik der Reiseunfreiheit in der ehemaligen DDR? Aktualität erschließe er nicht. Aber darauf kommt es Delius vermutlich auch gar nicht an, wie sein anspielungsreicher Titel wohl signalisieren will. Es geht vielmehr um den – auch skurrilen – Behauptungswillen von Sehnsüchten gegen alle gesellschaftliche und staatliche Bevormundung. Und so ein literarisches Thema kann schlechterdings nicht Verspätung haben. Würden wir sonst heute noch Eulenspiegel, den Eisernen Gustav, Schwejk oder dem Hauptmann von Köpenick begegnen wollen?

(Werner Wunderlich, Rhein-Neckar-Zeitung, 6.12.1995)