Friedrich Christian Delius, FCD

Gedichte Japanische Rolltreppen

Japanische Rolltreppen
Tanka-Gedichte

72 Seiten, Rowohlt, Reinbek 1989
9,00 € [D] / 9,30 € [A] / 16,60 sFr
ISBN 978-3-498-01278-6

Nur noch antiquarisch erhältlich (ZVAB)

Alle Gedichte dieses Bandes finden sich
in dem Auswahlband der Werkausgabe
„Unsichtbare Blitze. Ausgewählte Gedichte“


Pressestimmen:

West-östlicher Wellenschlag

Tanka-Gedichte von Friedrich Christian Delius

Der westdeutsche Autor F.C. Delius (geb. 1943) legt eine Sammlung von Kurzgedichten vor, die nach japanischem Muster gebaut sind: 31 Silben, auf fünf Zeilen von fünf- und siebensilbiger Länge verteilt. Hat sich, so muss man sich fragen, der Verfasser des vielumstrittenen und einen langwierigen Prozess auslösenden Dokumentarberichts „Unsere Siemens-Welt“ (1976) hinter die Unnahbarkeit fernöstlicher Spruchweisheit zurückgezogen? Ist der streitbare Lyriker und Romancier, dem es – in welcher literarischer Form auch immer – stets um das Aufzeigen aktueller Probleme ging, überdrüssig geworden des Zeitgeschehens und deshalb ausgewichen in eine Tradition, die sich über mehr als tausend Jahre zurückverfolgen lässt? Ist ihm die Hoffnung zerronnen, die ihn einst sagen liess: „Wir wagen plötzlich, Sätze ins Futur zu setzen.“? Hat es F.C. Delius vorgezogen, sich seiner Sprache zu nähern, die ohne Futurum auskommt? Fast könnte man es glauben bei Zeilen wie diesen:

Fliegender Wechsel
die Drachen hoch in der Luft.
Experten sagen,
diese Sprache kenne kein
Futur, sprich: wechselnder Flug!

Der Schein trügt. Erleichtert stellt man fest, dass sich hinter dem an japanisches Reispapier gemahnenden Bucheinband nicht Ephemeres, geschweige denn Kunstgewerbliches verbirgt. Der schräg ins Geviert gerückte Titel „Japanische Rolltreppen“ macht nicht nur inhaltlich, sondern schon rein optisch auf eine Spannung aufmerksam, mit der jedes der fünfzeiligen Gedichte aufgeladen ist. Form und Inhalt, Altbewährtes und Allerneuestes streben nach zwei entgegengesetzten Polen. Dass trotzdem die Einheit gewahrt bleibt, liegt an der Form des „Tanka“, die sich als viel konfliktfähiger erweist als das kürzere dreizeilige „Haiku“. Die für westliche Leser vielleicht unscheinbare Erweiterung ermöglicht erst den nötigen Spielraum für eine Aussage, die sich nicht auf ein „bloss“ ästhetisch ansprechendes Bild beschränken will. Das ist auch der Punkt, worin sich die anlässlich einer Japanreise entstandenen Tanka-Gedichte wohltuend abheben von dem immer noch grassierenden, oft ins Geschmäcklerische abgleitenden Haiku-Boom.
In seinem Nachwort schreibt F.C. Delius: „Ich wollte die japanische Form nicht nachahmen, sondern von ihr Gebrauch machen. Die Zeigegeste, die Technik des Offenlassens üben – ohne das europäische Temperament zu verleugnen.“ So ist es möglich, dass „Tanka aus Böblingen oder Bremerhaven, aus Eutin oder Köln nicht minder anspielungsreich, nicht minder poetisch sein (müssen) als in Nara oder Nagoya skizzierte“:

Taxis schwirren um
Getränkeautomaten.
Kühler Morgen, die
Uhren halten digital
die enge Welt zusammen.

Die fernöstliche „Zeigegeste“, die nicht urteilt, nur sichtbar macht, scheint F.C. Delius wesensmässig zu entsprechen. Sie ist eine zwar unerwartete, im Grunde aber konsequente Fortführung dessen, was der Autor in seinen Dokumentarberichten begonnen hatte. Nur dass sich hier, dank äusserster Reduktion der Mittel, eine Harmonie zwischen dem Zeigenden und dem Gezeigten herstellt, die weder anklägerisch noch beschönigend ist. Aus der geglückten Balance „zwischen der Strenge der Form und der Weite des Blicks“ sind Gedichte von zeitlos-klassischer Modernität geworden, die ganz direkt zum westlichen Leser sprechen – aber auch zum östlichen, wie sich anhand von „Rück“-Übersetzungen ins Japanische gezeigt hat. Die aus ruhigem Hinschauen kontemplativ gewonnenen Beobachtungen lassen die Trennung von Zeit und Raum, von westlicher und östlicher Kultur beinah vergessen. Und doch bleibt etwas Unverwechselbares, die spezifische Geste, die dem Gastland Reverenz erweist:

In offener Halle
essen, hocken und liegen.
Die Erde wird leicht.
Fü, zehn Minuten Mönch, schon
tragen die Wolken das Dach.

(Charitas Jenny-Ebeling, Neue Zürcher Zeitung, 17.03.1989)

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