Friedrich Christian Delius, FCD

Buch: Himmelfahrt

Himmelfahrt eines Staatsfeindes
Roman

368 Seiten, gebunden, Rowohlt 1992
19,90 Eur[D] / 20,50 Eur[A] / 34,90 sFr
ISBN 3-498-01289-4

auch in „Deutscher Herbst“ enthalten

rororo taschenbuch Werkausgabe
352 Seiten, € 9,99
ISBN 978-3-499-26764-2

 

Gespräch mit dem Badischen Tagblatt:
„Der einzelne Mensch im historischen Augenblick“


Deutschland im Herbst 1977: In einem fröhlich-überbordenden Festzug durch Wiesbaden werden die drei toten RAF-Gefangenen zu Grabe getragen, vorn die schwarzrotgold geschmückten Särge und die auf roten Ordenskissen präsentierten „höchsten Reliquien des Terrors“, die Selbstmordwerkzeuge der Stammheimer Staatsfeinde, dahinter Polizeikapellen, Trachtengruppen, Kegelclubs und schwarz vermummte Sympathisanten. Alle sind angetreten zu diesem Akt der Versöhnung mit ihren Lieblingsfeinden, zur Würdigung der Verdienste der RAF um den Zusammenhalt der Nation. Denn der Staat und seine Terroristen, sie haben einander so sehr gebraucht. „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ ist der dritte und abschließende Roman über den „Deutschen Herbst“ von Friedrich Christian Delius. In seiner Mischung aus dokumentarischen und fiktiven Elementen und aus verschiedenen Perspektiven versucht er die bis zur Unkenntlichkeit vernebelten Ereignisse von 1977 aufzuhellen – faktennah und facettenreich. Es ist eine spöttische Bilanz der Beziehung zwischen Staat und Terroristen – „gegen die rechte und linke Rechthaberei, gegen die offiziellen Lügen und die Selbst-Belügungen der RAF“ (F.C. Delius).

Rezensionen

Weitere Pressestimmen

Die öffentliche Beerdigung

Friedrich Christian Delius‘ Romangroteske „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“

Mit dem Terrorismus der RAF hat sich Friedrich Christian Delius bereits zweimal in Romanform auseinandergesetzt: 1981 verarbeitete er Motive der Schleyer-Entführung zur satirisch-realistischen Studie Ein Held der inneren Sicherheit, und 1987 schilderte er in Mogadischu Fensterplatz jene spektakuläre Flugzeugentführung, mit der die in Stammheim Einsitzenden freigepreßt werden sollten. Aus der Sicht einer der als Geiseln genommenen Passagiere streng subjektiv erzählt, endet der Roman damit, daß in der Wahrnehmung dieser Geisel Entführer und Befreier sukzessive identisch werden und die endlich Befreite „direkt in eine Tagesschauszene hineinläuft“.
Beide Motive, nämlich die bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander verbissenen Identitäten von Tätern und Opfern, von Fahndern und Verfolgten, von RAF und BKA einerseits, die Inszenierung der Terroristenjagd andererseits, nimmt Delius jetzt in seinem neuen Roman Himmelfahrt eines Staatsfeindes wieder auf und verschärft zugleich seine bewährte, satirische Gesellschaftskritik zu einer makaber-komischen Groteske. Man kann die drei Romane als eine eng ineinander verzahnte „Trilogie des Terrorismus“ lesen, denn Delius greift auch auf Ein Held der inneren Sicherheit zurück. Der dort entführte Chef des Industriellen-Verbandes, Alfred Büttinger, spielt in Himmelfahrt eines Staatsfeindes wieder eine wichtige Rolle: Einer an der Entführung Beteiligten hat in einem Versteck Tonbänder besprochen, aus denen hervorgeht, wie menschlich nah sich Büttinger und seine Entführer kamen und daß seine Ermordung strategisch völlig sinnlos war.
Diese Tonbänder bilden allerdings nur eine der insgesamt vier Erzählperspektiven, aus denen Delius Himmelfahrt eines Staatsfeindes mit dramaturgischer Meisterschaft komponiert hat. Indem der neue Roman auf den gewaltsamen, bis heute nicht zweifelsfrei geklärten Tod der Gefangenen von Stammheim fokussiert ist, wird nun der Finger auf die wundeste aller Stellen gelegt, die der Komplex RAF-Stammheim hervorgebracht hat. „Der Schuß: aufwärts ins Land des Schweigens mit der besten Droge, die mich je beflügelt: minutenlang der süße Hirntod und der Lebensfilm vierdimensional verlängert verschönt – Aber da unten rufen ganze Chöre von Interviewgeiern, Wahrheitsheuchlern und Säusellerchen mir zu: Wie? und Warum? und Selbst? oder Mord?“
Wer spricht da? Ein Toter, genauer gesagt: Die Seele eines Toten namens Sigurd Nagel. Und? Ist Sigurd Nagel identisch mit Andreas Baader? „Personen und Situationen dieses Romans sind Erfindungen des Autors“, läßt Delius uns wissen. „Wo Partikel der einen oder anderen Wirklichkeit zu erkennen sind, dienen sie nicht als Abbilder, sondern als Material der poetischen Phantasie.“ Zweifellos weisen Partikel der einen oder anderen Wirklichkeit darauf hin, daß hier nur Andreas Baader gemeint sein kann, und daß für seinen Gegenspieler, den Oberfahnder Schäfer, Horst Herold Modell gestanden hat. Aber Delius ist weit entfernt von Verismus, Dokumentation oder romanhafter Analyse des historischen Geschehens. Nagel ist vielmehr „der ewige Staatsfeind“, die Inkarnation einer ebenso notwendigen wie zeitlosen (und erwünschten) Bedrohung, und Schäfer ist „der ewige Frieden“, ein in seiner wahnhaften Verfolgungslust genauso ausweglos Gefangener wie die Terroristen in ihren Zellen.
Nagel also hat Selbstmord begangen, absichtsvoll so durchtrieben arrangiert, daß Zweifel immer bestehen bleiben müssen; und nun schwebt Nagel, von seinem Körper befreit, über den Dingen. Die Dinge aber sind: seine eigene Beerdigung. Kein eiliges Verscharren an irgendeiner Friedhofsmauer, sondern – ein Staatsbegräbnis. „Die Entscheidung fiel logischerweise für die Stadt, die diesem Toten beschäftigungspolitisch am meisten zu verdanken hat, also die mit dem größten Kriminalamt. Weitere Pluspunkte waren die ideale Verkehrsanbindung, der hohe Freizeitwert, die ausgezeichnete Hotelkapazität, überdies der gute Ruf einer weltberühmten Kurstadt. Nichts lag also näher als Wiesbaden, die vielfach bewährte Stadt der Feste und des Feierns, die nun das Privileg erhalten hat, für die ewige Ruhe der von der späten, aber nicht zu späten Liebe des Volkes erfaßten Toten sorgen zu dürfen.“
Horst Herold sagte über Andreas Baader: „Ich habe ihn geliebt.“ Das Zitat steht dem Roman als Motto voran, und dieser eine Satz reißt die ganze Absurdität der Wirklichkeit auf, die Delius konsequent und mit romantechnisch äußerst delikater Choreographie in die Wirklichkeit seiner poetischen Phantasie überführt. Die Tragödie des Geschehens wird zur Groteske, die Wirklichkeit zu einem veitstänzerischen Medienspektakel, zu einem Narrenzug der gesamten Bundesrepublik.
In gewisser Hinsicht ist der Terrorismus nicht einmal mehr der Gegenstand dieses vieles wagenden und als Roman alles gewinnenden Buchs, sondern nur noch seine Kulisse – Gegenstand ist das akute Problem, inwieweit Wirklichkeit zu medialen Inszenierungen verkommt und wie historische „Wahrheit“ in diesem Spektakel aufgelöst wird. Schon in seinem Roman Adenauerplatz von 1984 hatte Delius ironisch die Kamera als letzten Versuch gedeutet, „die Welt zusammenzuhalten“, eine undurchschaubare Wirklichkeit sinnvoll und das heißt, mit einem etwas obsoleten Wort: manipulativ, zu ordnen. Delius hat sich für die Durchführung der Idee, einen juristischen Skandal als multimediale Karnevalsveranstaltung bis zur Kenntlichkeit zu entstellen, auf ein Modell gestützt, nämlich Robert Coovers Roman Die öffentliche Verbrennung, in dem der amerikanische Autor 1976 die Hinrichtung der angeblichen Atomspione Ethel und Julius Rosenberg verarbeitete. Coover wie Delius treiben das Entsetzen in ihr ästhetisches Spiel, und das Grauen steigert die Komik und die Komik des Grauens.
Eine der dichtesten Szenen des Buchs zeigt den einsamen Fahnder Schäfer vor den Monitoren seiner Computer, von denen er hofft, sie mögen „alle Spuren des Subjektiven“ tilgen und „auf dem Wege der Programmierkunst des Janeinjaneinjanein direkt in Beweise und Befehle“ münden. Computerfahndung ist hier zu einem sich selbst generierenden, gigantischen Computerspiel geworden, das mit dem Subjektiven auch alle Grenzen zwischen Moral und Unmoral, Schuld und Unschuld, verwischt. Die Obszönität der „Liebe“ zwischen Fahnder und Terroristen reizt Delius mit geradezu gnadenloser Konsequenz aus, und treibt seinen Roman, dessen absurder Realismus etwas Visionäres hat, bis in unsere allerneueste Vergangenheit, wenn die Seele des ewigen Staatsfeindes schwadroniert: „…und ich rufe allen meinen Feinden und Richtern zu: ich liebe euch doch alle!“

(Klaus Modick, Frankfurter Rundschau vom 30.09.1992)

Totentanz oder Letzte Ausfahrt Wiesbaden

Feinde auf Leben und Tod: Friedrich Christian Delius‘ Roman „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“

Es herrscht Bombenstimmung in der noblen Kurstadt. Wiesbaden rüstet sich zu einem Schauspiel der besonderen Art: Staatsbegräbnis für drei Staatsfeinde – Anlaß zu einer Demonstration der Macht und zu einer „großen Geste der Milde“. Der Ort des spektatorischen Ereignisses weiß um seine Verantwortung: „Die Entscheidung fiel logischerweise für die Stadt, die diesen Toten beschäftigungspolitisch am meisten zu verdanken hat…“ Die Republik holt ihre verbrecherischen Rebellen heim, das Imperium schlägt in einem grotesken Gnadenakt zurück und schafft Klarheit.
Es war einmal ein Deutschland, im Herbst, eine freiheitliche Teilrepublik in ihrer heimlichen Wendezeit. Das Jahr 1977 markiert den Höhepunkt des Terrorismus und der staatlichen Gegengewalt zugleich. Zwischen Verunsicherung und markiger Entschlossenheit schwankt die Gemütslage der Nation: Tanz auf dem Vulkan in einem satten Wirtschaftswunderdeutschland. Zum dritten Mal und nun abschließend stellt sich F.C. Delius diesem Jahr und Thema. Wieder hat nach „Ein Held der inneren Sicherheit“ (1981) und „Mogadischu Fensterplatz“ (1987) die Perspektive gewechselt, geblieben ist die Frage nach der prinzipiellen Rekonstruierbarkeit eines gesellschaftlichen Bewußtseins im Kontext von Geschichte und Wahrheit.
War es im ersten Teil dieser Deutschland-Trilogie ein Mitläufer der Macht, aus dessen Sicht das Geschehen vermittelt wurde, reflektierte ein Opfer die Entführung der Lufthansa-Maschine nach Mogadischu, so dringt nun Delius in „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ in den Kernbereich des „RAF“-Terrorismus und in die Schaltzentrale des Bundeskriminalamtes vor. Die Feinde auf Leben und Tod verbindet eine tiefe Liebe, sind sie doch in ihrer jeweiligen Existenz untrennbar miteinander verkettet. Personifiziert in dem „RAF“-Terroristen Sigurd Nagel (alias Andreas Baader) und dem BKA-Chef Bernhard Schäfer (alias Horst Herold), wird dies als Duell zweier ungleicher Brüder im Geiste ausgetragen; sie brauchen einander, so wie das Horst Herold über Andreas Baader im „richtigen Leben“ zum Ausdruck gebracht hat und wie es von Delius als Motto vorangestellt wird: „Ich habe ihn geliebt.“
Wie immer sucht der promovierte Germanist Delius nach dem angemessenen formalen Zugriff. Das Ergebnis wirkt vertraut: Montagetechnik, Faktenmosaik, multiperspektivisches Kameraauge, Assoziationsketten, verschiedene Erzählebenen, hochdifferenzierter Sprachduktus. Der besondere Dreh diesmal: Der gerade „durch einen Schuß von (wahrscheinlich) eigener Hand“ umgekommene Terrorist Sigurd Nagel erlebt sein eigenes Begräbnis und rollt dabei in einer fast schon klassischen Recherche und Confessio noch einmal seine eigene Geschichte auf. Kontrastierend dazu führt uns Delius in die hermetische und voll mediatisierte Welt seines Gegenspielers Bernhard Schäfer. Zwei weitere Erzählstränge kontuieren und ergänzen den „Lebensfilm“. Isoliert in ihrem Versteck, protokolliert eine der meistgesuchtesten Terroristinnen in typischer „RAF“-Diktion ihre Niederlage und ihr Versagen, während ein italienischer Professor den Selbstmord eines anderen Gefangenen untersucht und dabei in den Strudel der Ereignisse gerät.
Die Konstellation ist noch vertraut und ungebrochen aktuell: Ein technisch hochgerüsteter Polizeiapparat jagt eine der kleinsten Armeen der Welt, die sich heillos ins Bomben und Morden verrannt hat. Eine solche Geschichte ist für Delius einzig noch als zynische Groteske vermittelbar, ein „danse macabre“ barocken Ausmaßes. „Ich gegen alle und alle gegen mich“, konstatiert der Held zu Beginn und zitiert leitmotivisch eines der grausamsten Märchen aus der Sammlung der Brüder Gimm: „Von dem Manchandelboom“. „Mein‘ Mutter, der mich schlacht, / mein Vater, der mich aß, / mein Schwester, der Marlenichen, / sucht alle meine Benichen, / bindt sie in ein seiden Tuch, / legts unter den Manchandelboom, / Kiwitt, kiwitt, was für ein schöner Vogel ich bin!“ Der im Märchen heimtückisch von der bösen Stiefmutter Gemordete und fortan als Vogel klagend Umherfliegende rächt sich am Ende und kehrt gleichsam wiedergeboren in den Kreis der Familie zurück. Sigurd Nagel ist diese Wiederauferstehung versagt.
Dazwischen entfaltet Delius aus lauter Momentaufnahmen und Partikeln ein Panorama dieser Zeit, eine krude Mischung aus quälender Selbstbefragung, Werbesprüchen, Rock-Song-Zitaten und literarischen Texten, die zerrspiegelartig die Bewußtseinslage einer angekratzten Collagen-Gesellschaft dokumentieren. Dabei vermag Delius nicht der Verführung zu entgehen, den Zeitgeist der späten achtziger Jahre in die allgemeine Verunsicherung des Jahres 1977 hineinzuprojizieren. Das ändert aber nichts an der beklemmenden Intensität des Romans.
Souverän führt der Artist Delius über eine ausgeklügelte, facettenreiche Sprachgestaltung Regie, dringt mikroskopisch genau in die Ritzen des Alltagsbewußtseins ein und fügt schließlich die verschiedenen Bewußtseinsstränge zu einem Mosaik gesellschaftlicher Befindlichkeit, das die Abgründe und Hohlräume hinter den Fassaden der bürgerlichen Ordnung wie der terroristischen Selbstgerechtigkeit aufdeckt. Während stellenweise die Schilderungen des zirzensisch aufgebauschten Begräbnisrituals zu ermüden beginnen und auch die Erkundungen Sigurd Nagels in eigener Sache nicht ohne Längen sind, gelingt Delius ein schaurig-schönes Portrait des Jägers.
BKA-Chef Schäfer ist ein Liebhaber. Mit unerbittlicher Ausdauer verfolgt er die Subjekte seiner Begierde. Umgeben von Monitoren, Fahndungsplakaten und permanent abrufbereiten Datenbanken, gibt er sich in seiner künstlichen und isolierten Welt hemmungslos der Lust des Beobachtens, Ausspähens und Kontrollierens hin. Er ist ein leidenschaftlicher Sammler, er braucht seine Opfer lebend. Der Tod der Gejagten stimmt ihn traurig, in den Särgen entschwinden sie seinem beobachtenden Auge, sein Monitorblick lebt von Gesichtern – auf dem Bildschirm oder wenigstens auf den Fahndungsplakaten in seinem total gesicherten Arbeitszimmer. Er beneidet einen Kollegen, der die unmittelbare Nähe zu seinem Gegner spürt.
Schäfer kennt die absurde Logik und die vertrackte Moral seines Kampfes: Die wahren Stützen der Gesellschaft sind ihre verbrecherischen Rebellen, dienen die doch unbewußt ungewollt der Verbreitung der Moral. Und nur so kann Strafvollzug zur „Facharbeit am Menschen“ avancieren. Gefangene sind sie beide, der Held und sein Jäger. Weil nur die Kolportage der Wirklichkeit nahe kommt, darf der Showdown ganz am Schluß nicht fehlen: „der leibhaftige Nagel steigt von einer in Silberfolie verfaßten Himmelsleiter hinab (…), in roten Schuhen, im weißen Anzug wie ein Showmaster, mit breitestem Lächeln im Glitzerlicht die Stufen hinab“ und schaut nach dem von Alpträumen und romantischen Sehnsüchten geplagten einsamen Schäfer. Keine Infrarotkamera und -schranken können dieses Gespenst des Medienzeitalters zurückhalten, Schäfer verspürt Respekt für diesen „hochintelligenten und hochmoralischen jungen Menschen“, unwiderstehlich fühlt er sich von ihm angezogen, aber Nagel entgleitet ihm, und seinen Liebesschwur verweht der Wind…
Delius kennt den Stoff, aus dem die Träume sind. Er breitet kontrastreich sein Material aus: Fakten, Mutmaßungen, Syndrome, Pathologisches, Fiktionen. Die Wahrheit liegt immer dazwischen – das Leben ein Spiel. Das große Welttheater des F.C. Delius präsentiert sich über viele Stationen leicht, das fördert kraft einer schönen Dialektik den Tiefgang. Nur mit kombinatorischer Einbildungskraft ist diese innere Schaubühne zu erfassen – also: Take the walk on the wild side: Und die Moral von der Geschicht‘? Wehe der Gesellschaft, die nicht solche „Gegner“ hat!

(Klaus Siebenhaar, Der Tagesspiegel, 29.09.1992)

Politisches Begräbnis, Medienspektakel

Plädoyer für F.C. Delius‘ umstrittenen Terroristen-Roman

Es ist schon ein Kreuz mit den Dichtern: Der Markt verlangt nach Romanen zur Ausländerfeindlichkeit und zum Ozonloch – da hat einer die Stirn, uns mit Terrorismus zu behelligen, obwohl selbst die RAF-Erben sich vor Monaten schon öffentlich zum einstweiligen Gewaltverzicht bekannt haben. Delius darf sich also nicht wundern, wenn ihm das deutsche Feuilleton fast unisono auf die Finger klopft.
Für Robin Detje in der Zeit beispielsweise ist klar, daß soviel „Kitsch“ und „Rhetorik“ nur die „Rache des altlinken Autors am Volk“ sein können. Reinhard Mohr ärgert sich im Freitag über „gnadenlose Kolportage“, „quälende Langeweile“, „schlechte Karikatur“ und „neudeutsches Mythengeflecht“. In der Frankfurter Allgemeinen attestiert Jürgen Jacobs dem Autor zwar „talentiertes Erzählen“ und „exzentrische Einfälle“: den Mangel an „rechtem Augenmaß“, die „groben Knalleffekte“ und die Fehler beim Realitätsbezug kann er allerdings nicht durchgehen lassen. Gab es doch in Wirklichkeit „keine Dankgefühle gegenüber denjenigen, die den Schrecken verbreitet hatten, keine Kirmesstimmung, keine innere Verbundenheit mit den Akteuren des Terrors“. In der taz schließlich sorgt sich Peter-Jürgen Book, dieser Roman könne „das Pech haben, ein im Ansatz bemerkenswertes Buch zu sein, das zur Unzeit erscheint“.
Das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, um das es den Kritikern immer wieder geht, wäre eigentlich Stoff der zehnten Klasse. Für alle, die damals gefehlt haben, in Kürze: F.C. Delius hat weder eine Geschichte der RAF geschrieben noch eine Gebrauchsanweisung fürs harte Leben in den neunziger Jahren, sondern einen Roman, der zusammen mit „Ein Held der inneren Sicherheit“ und „Mogadischu Fensterplatz“ eine Trilogie bildet, den man aber durchaus auch außerhalb dieser Reihe goutieren kann.
Wer sich den Spaß gönnen möchte, muß allerdings ein bißchen Anstrengung investieren. Denn wer sich mit der Entschlüsselung der Hauptfiguren (Nagel= Baader, Schäfer=Herold, Falcke=Meinhof usw.) begnügt, wer das geschilderte Terroristen-Staatsbegräbnis als Realität nimmt, geht seiner eigenen Phantasielosigkeit auf den Leim. Ihm entgeht, daß dies überhaupt kein Buch über Terrorismus ist (der einzige Schuß fällt hinter den Kulissen), sondern ein literarisches Spektakel, das vom Wendejahr 1977 aus ein grelles Licht auf die Gegenwart wirft. Zeitgeschichtliche Fakten liefern den Stoff für eine Groteske, in der wie in einem Brennglas deutsche Historie fokussiert wird. Zwei Ereignisse markierten damals das Ende der Nachkriegszeit: Mogadischu (mit dem ersten Sieg bewaffneter Deutscher auf ausländischem Boden nach vierzig Jahren) und Stammheim (mit dem „sanften“ Erfolg eines von Geld und Technik gespeisten perfekten Apparates): Erst die deutsche Vereinigung hat uns wieder neu mit andernorts ungelösten Nachkriegsproblemen konfrontiert und so um Jahrzehnte zurückgeworfen.
Jenen, die sich nicht schon in seiner Oberfläche verheddern, erschließt sich der Text als Kunststück. Mit wohlkalkulierter Dramaturgie – ausgeklügelt inszenierte Perspektivenwechsel, mathematisch präzise gegeneinander montierte Kapitel – und sprachlicher Akkuratesse hat Delius einen brillanten Gegenwartsroman geschrieben: ein Sozio-Psychogramm der westdeutschen Gesellschaft. Die Darstellung der Beziehung zwischen dem von selbstzerstörerischem Sendungsbewußtsein durchdrungenen „obersten Polizisten“ und dem – in seiner Egozentrik nicht minder selbstzerstörerischen – Topterroristen Nagel gerät zur Parabel einer Macher- und Organisatoren-Gesellschaft, in der den Massen höchstens die Konsumentenrolle für Bratwürste und Fernsehbilder bleibt („die Macht stützt sich auf Lieferscheine; wer spricht von Gewehrläufen“). Ein Begräbnis als Medienspektakel, der mediale Überwachungswahn der Polizei – das sind Metaphern einer sich krakenartig ausbreitenden Bilder- und Medienrealität, in die die Hauptkontrahenten schon längst verstrickt sind. Nagel ist „süchtig nach Bildern“, die aussteigewillige Genossin Conni nicht mehr in der Lage, zu schreiben und deshalb für ihre Bekenntnisse – in der RAF-Diktion – auf den Kassettenrekorder angewiesen; Schäfer lebt nur noch zwischen Computern – wenn er liest, dann zur Informationsbeschaffung („was wird gedacht in der Gesellschaft, was ist gefragt. Früherkennung“).
Dazwischen agiert – neugierig, fremd, verfolgt – der italienische Germanistik-Professor Serrata, Mitglied einer internationalen Untersuchungskommission zum Selbstmord der Terroristin Falcke, eine Nebenfigur, hinter der nach Hitchcock-Manier die intellektuelle Physiognomie des Autors aufscheint. Er entdeckt nach dem Sieg von Mogadischu eine „neue Sprache, ein anderes, stolzeres Deutsch“ in Deutschland. In seiner politischen Arbeit insistiert er wie im Beruf auf dem Wort, auf genauem Lesen (zum Beispiel von Obduktionsprotokollen). Das wird ihm, wen der Staatsschutz seine im Schließfach deponierten Aufzeichnungen durchschnüffelt, beinahe zum Verhängnis; trotzdem kann er sich als einziger an der Komik der Begräbnis-Inszenierung freuen.
Wenn Delius für seine Roman „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ Häme und Haue bekommt wie einst Heinrich Böll, ist das wohl der Preis für die Zertrümmerung gefälliger Selbstbilder.

(Hannes Krauss, Die Tageszeitung, 06.01.1993)