Friedrich Christian Delius, FCD

Essay Der Held und sein Wetter

Der Held und sein Wetter
Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus
Mit einem Vorwort von Wolf Haas

221 Seiten, gebunden
€ 24,90 (D) € 25,60 (A) CHF 35,90

Wallstein Verlag, Göttingen 2011
ISBN 978-3-8353-1028-5

Zuerst erschienen 1971 im Carl Hanser Verlag

Hier ein literarischer Wetterbericht …


Pressestimmen:

Kapitalistisches Dreckwetter

Die Germanisten haben es schwer. Erstens war beim Anspruch auf eine Spitzenposition unter den gelehrten Disziplinen die SDS-Reizparole „Schafft die Germanistik ab!“ schon ein schlimmer Schlag. Zweitens verdrießt ein Blick auf anderer Leute Handwerkszeug. Der Biologe mit seinen Probiermäusen, der Mediziner mit Grippebazillen, der Wirtschaftler mit Bilanzen und Zinsfüßen: sie alle gehen mit Realien um, liefern exakte Ergebnisse und wissen, daß sie gebraucht werden. Philologen dagegen sehen sich beschuldigt, sie verkörperten bloß „die Freiheit einer Forschung, die Forschungsprobleme aufstellt, um forschen zu können“.
Wenn in dieser Lage Friedrich Christian Delius ein Buch mit dem Titel „Der Held und sein Wetter“ veröffentlicht, könnte man mutmaßen, jetzt sei es ganz aus: man erwartet entweder esoterische Mitteilungen aus dem Elfenbeinturm oder Alltagsphrasen, über die ohnehin alle reden. Beides räumt aber schon der erste Satz beiseite: „Diese Arbeit hat mit der Meteorologie genau so wenig zu tun wie mit der germanistischen Motivforschung.“
Delius prüft den Zusammenhang Autor-Held-Wetter an Beispielen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, an etwa sechzig Romanen, die wir hilfsweise in die Rubrik „bürgerlicher Realismus“ einordnen. Die Untersuchung reicht von poetologischen Fragen bis zu ideologiekritischen und gesellschaftlichen Analysen. Nur einseitig festgelegte Gegner werden ihr vorwerfen, daß sie sich damit zwischen alle Stühle setze. Weder die, die in der Dichtung die Künderin höchster Wahrheiten sehen, noch jene, denen agitatorisches Eingreifen in die politische Auseinandersetzung erwünscht ist, kommen auf ihre Kosten. Dem Verfasser geht es nicht um vorschnelle Feststellungen an Hand einer fixierten Methode, sondern um die Reflexion von Widersprüchen und Problemen eines germanistischen Gegenstandes und der germanistischen Forschung überhaupt. Bewußt kalkuliert er mit der Offenheit seiner Analyse auch das Risiko des Dilettantismus ein: „Denn es ist sinnvoller zu zeigen, wo und wie soziologische, psychologische und andere Aspekte erscheinen und wo die Fragen der Germanistik belanglos werden, als sich scheinbar undilettantisch mit den überkommenen literaturwissenschaftlichen Fragestellungen zu bescheiden.“
Das fiktive Wetter als Teil der emotional beladenen Natur wird als Stimmungsmacher für bürgerliche Helden, Lebensweisen und Werturteile gezeigt. Daß diese germanistische Dissertation geradezu unterhaltsam und amüsant ist, läßt bereits eine kurze Aufzählung von Wetterdetails ahnen: verklärender Mond, antisemitische Sonne, ahnungsvoller Nebel, kupplerischer Wind, kapitalistisches Dreckwetter, moralisches Wetter – und all das gibt es zum Beispiel in Raabes „Hungerpastor“.
Die romantischen Vorstellungen sind inzwischen auf den Hund gekommen. Die domestizierten Nachfahren formulieren kein Identitätsstreben mit der Natur mehr. Eine vage Feierabend-Harmonie mit der Natur dient lediglich dazu, sich um so besser wieder der Gesellschaft anzupassen. Ruhe war die erste Bürgerpflicht.
Folgerichtig installiert die Literatur mit den Verweisen auf das Wetter und auf das Höhere einen imaginären Himmel, der die ordinären Geschehnisse unten verklärt. Die heile Welt, in der alles richtig zugeht, schafft Wohlbehagen und Zufriedenheit. Schlechtes Wetter wird dem Bösewicht als Indiz seiner Bösartigkeit angelastet; dem Guten verhilft es in trauriger Lage wenigstens zu einer schönen Melancholie. Wichtige Konflikte wie die Hunnenschlacht in Scheffels „Ekkehard“ werden allegorisch vorwegentschieden: christlicher Frühling gegen heidnischen Winter. Die notorische Überlegenheit der guten Seite projiziert sich bis in die Wolkenformationen. Geht es ans Sterben, deutet der Wetterbericht auf allerletzte Dinge. Der Augenblick des Todes wird zu einem kleinen Jüngsten Tag: mildes Wetter läßt auf milde Beurteilung des Dahingeschiedenen schließen; wildes Wetter weist auf Verdammnis hin. Der Viererclub, der als erhabene Instanz Schicksal verkörpert, Sonne, Mond, Sterne, Wolken, spricht Sympathien, Diffamierungen, Urteile und Gnadenakte aus. Wen es auch trifft: Autor und Leser sind so einer rationalen Auseinandersetzung mit ihm enthoben.
Als Gegenbeispiel werden zwei Schriftsteller gezeigt: der eine, Fontane, baut die Trivial-Techniken allmählich ab, relativiert sie ironisch, ohne sie ganz zu überwinden; der andere, fünfzig Jahre früher, zerstört hohnvoll alle Vorstellungen der Empfindsamkeit über Natur und Wetter und entlarvt satirisch das Verlangen nach Unterwerfung, Geschlossenheit und harmonischer Einheit: Jean Paul. Dafür ist sein gesellschaftskritischer Luftschiffer Giannozzo mit seinem „Seebuch“ auch nie so bekannt geworden wie die in hohen Auflagen gedruckten bürgerlichen „Realisten“.

(Helmut Merker, Der Tagesspiegel, 30.01.1972)

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