Friedrich Christian Delius, FCD

Satiren Gemüseesser

Einige Argumente zur Verteidigung der Gemüseesser
Eine Denkschrift

96 Seiten, Rotbuch Verlag, Berlin 1985
ISBN 978-3-880-22306-6

 

Wir Unternehmer. Unsere Siemens-Welt. Einige Argumente zur Verteidigung der Gemüseesser
rororo taschenbuch Werkausgabe
464 Seiten, € 12,99
ISBN 978-3-499-26783-3

 

Pressestimmen:

 

Hungerpolitik des Wunsiedler Menschenfreunds

Brüssel und die Folgen – Eine Satire von F.C. Delius

Als das Stuttgarter Oberlandesgericht im Streitfall Siemens gegen Delius entschied, neun Behauptungen in der dokumentar-satirischen „Festschrift“ „Unsere Siemens-Welt“ von F.C. Delius seien zu schwärzen, stellte es sich auf den Standpunkt, Unwahres dürfe nicht behauptet werden. Das Gericht bestritt nicht, daß Delius‘ Dokumentarsatire ein Kunstwerk sei, ließ sich aber nicht darauf ein, es als Satire zu charakterisieren.
Zum Wesen der Satire gehört es aber, daß sie übertreibt, zuspitzt und also Unwahres behauptet. In diesem Unwahren wiederum liegt die Wahrheit, die Wahrheit der Satire; sie wird ermöglicht – vor allem – durch ihre Form. Je frecher, je hinterhältiger und je bösartiger sie gemacht ist, um so besser ist sie als Satire.
Wie die Ironie übertreibt die Satire, indem sie das Gegenteil von dem sagt, was sie meint. Was sie meint, drückt die Satire aus, indem sie in fremde Kleider schlüpft, Rollen spielt.
In seiner neuen Satire trägt Delius die Maske eines pensionierten EG-Beamten aus Brüssel, nun wohnhaft im oberfränkischen Wunsiedel, der eine „Denkschrift“ verfaßt, in der er irgendeinen „hochverehrten Präsidenten“ um Schutz für eine von „Haß, Diskriminierung und offener Gewalt“ bedrohte Minderheit bittet – die „Gemüseesser“. Anlaß wachsender Aggressivität der Majorität gegenüber den Gemüseessern, so führt der EG-Beamte aus, sei die „Neue Hungerpolitik“, derzufolge nur „im Genuß von Fleisch“ eine wirksame Bekämpfung des Hungers in den armen Ländern erkannt werde. Das aber, so schreibt der ehemalige „Leiter der Agrar-Logistik Außenhandel“, seit einem Magenleiden selbst Vegetarier, sei doch eine falsche Frontstellung, schließlich leisteten auch Gemüseesser ihren Beitrag zur Neuen Hungerpolitik.
Mit dieser hinterhältigen, scheinheiligen Finte eröffnet Delius seine Satire. Neue Hungerpolitik bedeutet – nicht erst, aber vor allem auch seit Reagan, Thatcher und Kohl – Realisierung eines „globalökologischen Konzepts“, will sagen: Da sich das soziale Leben ebenso vollziehe wie das Leben in der Natur, wo es Starke und Schwache gibt, ist es das natürliche Los der Schwachen und Hungernden, von den Starken gefressen zu werden. Im Rahmen dieser freiheitlichen, westlichen, marktorientierten Hungerpolitik kommt es darauf an, den Hungernden in der Dritten Welt „zu einem möglichst schnellen … Ende zu verhelfen“ – zum raschen Hungertod.
Diese Politik bedürfe, so der Wunsiedler Menschenfreund, dringend der Verbesserung, weil sich die Weltbevölkerung derzeit unentwegt weitervermehrt, und zwar in einem Maße, daß das jetzige Verhältnis zwischen Arm und Reich von 1 zu 3 bald auf 1 zu 8 anwachsen werde. Vor diesem Schicksal weiterer Verelendung durch weitere Vermehrung sind die Armen in Namen westlicher Humanität und einer „freiheitlichen und brüderlichen Weltgemeinschaft“ dringend zu bewahren. Die Lebensmittel dieser Erde so zu verteilen, daß jeder satt wird – das ist ein untaugliches Mittel, denn in diesem wettbewerbs- und marktfeindlichen Verteilungsgedanken komme ja nur wieder der „typisch pessimistische Sozialstaatsgedanke“ zum Ausdruck. Es bedarf vielmehr einer optimistischen Hungerpolitik, die die Starken noch stärker macht und die Schwachen noch schwächer. Nur wenn der freie Unternehmer sich frei entfalten kann, ist gewährleistet, daß jeder in der Dritten Welt investierte Dollar/Franken/DM doppelt und dreifach zurückfließt.
Zu dieser notwendigen Vergrößerung des Abstandes zwischen armen und reichen Ländern – so führt der Wunsiedler Humanist weiter aus – tragen Banken, Internationaler Währungsfonds, Chemie- und Pharmaindustrie, Multis und Politiker schon das Ihre bei – durch effektive Marktsteuerung, clevere Preisgestaltung der Weltmarktprodukte, konsequente Ausschöpfung der Reserven der Billiglohnländer. Alles kommt nun darauf an, daß auch der Verbraucher, der Souverän der freien Marktwirtschaft, umfassend mobilisiert werde. Er empfehle deshalb eine Stiftung, die gemeinsam mit einer „permanenten Olympiade der Ideen“ eine „neue Kampagne zur Mobilisierung der Verbraucher“ organisiert: „Verschiedene Teams von Ökonomen, Ökologen, Ärzten und Sozialwissenschaftlern sollten Produktlisten ausarbeiten, die den Anteil jeder einzelnen Ware oder Warengruppe an der Verarmung der Bevölkerung ihrer Herkunftsländer verzeichnet … Alle Hersteller bzw. Importeure, Vertriebs- und Abfüllgesellschaften usw. haben die von den Wissenschaftlern ermittelten und auf den Produktlisten verzeichneten Werte deutlich sichtbar auf den Waren anzugeben. Besonders verarmungsintensive Waren sind mit entsprechenden Gütesiegeln zu kennzeichnen.“ Nur so, so schließt der Wunsiedler EG-Pensionär seine „Denkschrift“ an den „hochverehrten Herrn Präsidenten“, ist den Armen weitere und entscheidende „Erleichterung zu verschaffen“.
Das alles ist unwahr und doch zutiefst wahr. In dieser intelligenten, konsequent aufgebauten und durchgehaltenen Satire stellt Delius dar, was viele nicht sehen oder verdrängen: daß Industrieländer auf vielfältige Weise zur Verelendung der Dritten Welt beitragen, eine Form von wirtschaftlichem Kannibalismus betreiben, ihre liberalen Freiheitsvorstellungen auf den Gräbern von Millionen von Hungertoten errichten.
Die Politik der Solidarität, die – etwa – Untersuchungen wie „Global 2000“ und der „Bericht der Nord-Süd-Kommission“ dringend nahelegen, werden – besonders seit Reagan – in den Wind geschrieben. Entwicklungshilfe wird nahezu ausschließlich nach wirtschafts- und machtpolitischem Eigeninteresse vergeben. Das Sagen hat der wirtschaftlich Starke. Opfer müssen sein. Malthus und Darwin redivivus.
Delius‘ gelungene Satire ist eine Antwort auf diesen Verrat an Solidarität, auf diese globale Schmähung der Mitmenschlichkeit, auf diese zynische Verachtung der Schwächeren. Sie enthält aber auch ebenso eine deutliche Spitze gegen jene unter den Grünen, die das ökologische Kreislaufdenken, das Denken im Biotop, derart verabsolutieren, daß sie dem Catch-as-catch-can, dem Kampf der Starken gegen die Schwachen, der in der Natur die Regel ist, keine humane, mit dem Schwächeren solidarisierende Intelligenz entgegensetzen. Indem Delius in seiner Satire den beamtenhaft-beflissenen, bürokratischen Sprachton durchhält, liefert er auch jene technokratische Intelligenz ans Messer der Satire, die sich zu allem hergibt. „Der Satiriker“, schrieb Tucholsky 1919 in seinem kurzen Essay „Was darf die Satire?“, „ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.“ Es ist nicht das Schlechteste, gegen das Schlechte anzurennen, zumal wenn es auf so gekonnte und beeindruckende Weise wie bei Delius geschieht.

(Stephan Reinhardt, Nürnberger Zeitung, 27.11.1985)

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