Buch: Die Frau für die ich den Computer erfand
Die Frau, für die ich den Computer erfand
Roman
288 Seiten, gebunden
€ 19.90
ISBN 978-3-87134-642-2
rororo taschenbuch
288 Seiten, € 8,99
ISBN 978-3-499-25239-6
rororo taschenbuch Werkausgabe
288 Seiten, € 9,99
ISBN 978-3-499-26784-0
Hier eine Leseprobe.
Hörbuch:
3 CDs, gelesen vom Autor
Verlag Antje Kunstmann, München 2010, € 19.90
ISBN 13: 978-3-88897-656-8
iPhone-App: Rowohlt-Verlag
In einer Vollmondnacht im Sommer 1994 sitzen ein alter Herr und ein junger Mann auf einem Berg und reden. Der eine ist der Erfinder des Computers, der andere eine mathematische Niete, ein Journalist. Der Alte erzählt – während er den Festakt zu seinem vierzehnten Ehrendoktorhut schwänzt – von den Wundern, die er mit handgesägten Einzelteilen am Wohnzimmertisch in Berlin-Kreuzberg vollbracht hat,von seiner Arbeit in Nazideutschland, von der dramatischen Flucht mit der „Universal-Rechenmaschine“ in den letzten Kriegswochen, von seiner Werkstatt in der Rhön und seinem Pech mit den Patentämtern.
Je mehr er redet, desto freier fühlt er sich, von seinen Erfolgen und Niederlagen zu berichten, seine Ansichten über Gott und die Welt auszupacken und seine leidenschaftliche Fernliebe zu Ada Lovelace (1815-1852), der Tochter Lord Byrons, zu beichten. Er phantasiert, lamentiert, triumphiert und kann sich nicht lösen von dem Gedanken, etwas Faustisches in sich zu haben …
Wie kam es zu dem Gerät, das heute auf allen Schreibtischen steht? Friedrich Christian Delius erzählt in diesem raffinierten und höchst unterhaltsamen Roman die unglaubliche Geschichte des Konrad Zuse (1910-1995) – und davon, wie alles anfing, wie das digitale Zeitalter begann. Die Erfindung des Computers – und die Erfindung einer unmöglichen Liebe.
„Konrad Zuse, Erfinder des Computers, erzählt sein Leben. Ruft die Kunst gegen die ‚Technikidioten‘ auf, die Mathematik gegen den Kulturhochmut, feiert das Faustische und demontiert es durch tückisches Lob. Mit diesen schillernd-zeitkritischen Betrachtungen eines Unpolitischen schreibt Delius seine Bewusstseinsgeschichte fort, so geistsprühend und heiter, dass man rufen möchte: Teufel, er wird immer besser!“
(Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, Andreas Nentwich)
„Delius erweist sich hier wieder als ein aufklärerischer, phantasievoller Chronist und als souveränder Sprachvirtuose. Mit subversivem Witz und literarischem Raffinement jongliert er zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Geschichtsschreibung: der Schriftsteller als artistischer Gaukler auf historischem Terrain, der es mit dem Diktum Verdis hält, dass Künstler die Wahrheit erfinden müssen.“
(Rheinischer Merkur, Cornelia Staudacher)
„Der Monologiker Konrad Zuse auf seinem Zauberberg in der hessischen Provinz hat gerade wegen seiner Redseligkeit auch etwas vom Stummfilmhelden: eine komische Untergangsfigur wie Buster Keaton, der seinen Schmerz hinter der Maske eines verwegenen Stoizismus verbergen will.“
(Der Tagesspiegel, Wilfried F. Schoeller)
„Nie war Delius so heiter, entspannt und politisch unkorrekt wie in diesem Monolog eines alten Grantlers, der sich so verkannt und unterschätzt fühlt wie das Jägerschnitzel von hochnäsigen Gourmets. (…) Eine Brücke zwischen feindlichen Kulturen von Natur- und Geisteswissenschaften.“
(Berliner Zeitung, Michael Halter)
„Delius ist die Exzellenz des kühlen Humors unter den gesellschaftskritischen Schriftstellern, der elegante Stilist und dezente Moralist. Was er diesmal seinem frischen vierundachtzigjährigen Helden in den Mund legt, ist nicht nur ungewöhnlich weit entfernt von üblicher literarischer ‚Feinschmeckerei‘; es ist eine knurrige Generalbeichte. Und Konrad Zuse – Ingenieur, Erfinder, Genie- hat viel zu beichten. (…) Was für ein Thema! (…) Literatur für User sozusagen.“
(Neue Zürcher Zeitung, Beatrix Langner)
„Ein wundervoller Monolog, der den Leser voller Tempo durch Geschichte und Technik führt und dabei einige kluge Bemerkungen zur Logik, zum Erfinden und zur Kunst zu machen hat.“
(Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Florian Balke)
„… nicht nur spannend, sondern auch ungeheuer informativ“
(Die Welt Online, Ulrich Clauß)
„Sehr kühn, sehr amüsant, sehr gut gemacht. Ein Buch, wirklich für alle, von 14 Jahren bis 94 …“
(Hessischer Rundfunk, Hanne Kulessa)
„Der Roman von Delius ist nicht techniklastig. Das Buch liest sich vielmehr wie eine längst fällige Rückrufaktion eines vergessenen Genies. Wobei dem Autor das Kunststück gelingt, die Bedeutung von Schaltkreisen poetisch umzudeuten in das Große und Ganze eines außergewöhnlichen Menschenlebens.“
(Nürnberger Zeitung, Ursula Persak, 31.10.2009)
Gustav Seibt:
Begrüßung bei der Buchpremiere in der Akademie der Künste Berlin.
„Heute muss man in Dresden und Potsdam gewesen sein, aber von der wichtigsten Maschine unserer Zeit muss man nichts wissen, immer noch nicht.“ Der Mann, der das sagt, ist 85 Jahre alt und der Erfinder dieser wichtigsten Maschine. Der Roman, den uns sein Verfasser Friedrich Christian Delius und sein Lektor Gunnar Schmidt vom Verlag Rowohlt Berlin heute vorstellen, handelt von dieser wichtigsten Maschine, von ihrem Erfinder und seiner Geschichte. Ich begrüße unsere beiden Protagonisten sehr herzlich im Namen der Abteilung Literatur dieser Akademie. Dass Christian Delius seit 2007 unser Mitglied ist, gereicht uns zur Ehre und, wie Sie heute Abend erfahren, zur Bereicherung. Ich bin dankbar, dass wir den neuen Roman „Die Frau, für die ich den Computer erfand“ der Öffentlichkeit hier zuerst vorstellen können.
Der Titel verrät, um was es sich bei der wichtigsten Maschine unserer Zeit handelt. Allerdings hat ihr Erfinder ihr zunächst nicht diesen Namen gegeben, der vom lateinischen Wort computare für „zählen“ und von seinem vor allem mittelalterlichen Ableger, dem computus, kommt. Das haben, wie er gallig vermerkt, seine angelsächsischen Nacherfinder mit ihrem Sinn für schlagkräftige Formulierungen getan. Er, der Urerfinder, sprach deutsch-verschachtelt von „Universaler Rechenmaschine“. Wir reden, Sie haben es längst bemerkt, von Konrad Zuse, dem 1995 verstorbenen Pionier der modernen Computer, jener unvergleichlich leistungsstarken multifunktionalen Schreib-, Rechen-, Kommunikations- und Gedächtnismaschinen, die ziemlich genau seit Zuses Tod unser aller Alltagsleben, um von der Wissenschaft, der Weltwirtschaft und der Politik zu schweigen, so tiefgreifend verwandelt haben wie nur eine Handvoll Erfindungen in der Geschichte der Menschheit. In den letzten zweihundertfünfzig Jahren kommen ihm, dem Computer, vielleicht nur die Dampfmaschine, die Fotografie, Automobil und Flugzeug, Radio und Fernsehen, sowie große medizinische Errungenschaften wie die Antibiose oder die Empfängnisverhütung gleich.
Und doch, worin besteht eigentlich der Folgenreichtum dieser Apparatur und wie lässt er sich dingfest machen? Den alten Mann, der hier zurückblickt, lässt Delius von einem mittelhohen Berg im Hessischen über die Landschaft blicken: „Wälder und Felder, die ganze grüne Landschaft sieht von oben fast aus wie vor fünfzig Jahren oder sagen wir wie 1951, und doch ist alles, ich sage alles, total anders geworden.“ Auf jedem Schreibtisch da unten inzwischen ein Computer – dem alten Zuse erscheint das so gewaltig wie die hier oben sichtbaren Basaltsteine, die zehn oder gar zwanzig Millionen Jahre alt sind.
Ein alter Mann blickt über eine weite, urzeitlich geformte Landschaft und zurück auf ein langes Leben voll wunderbarer Leistungen. Ich verrate nicht zu viel im Voraus, wenn diesen Blick faustisch nenne. Die universale Rechenmaschine, ihre Grundlagen im binären Zahlensystem von Leibniz, ihre Verwendung des gleitenden Kommas, sie wird uns hier als deutsch-faustisches Unternehmen vorgestellt, als Kapitel aus der großen Geschichte von Magie und Moderne, die Goethe entdeckt hat und die seither immer wieder weitergesponnen wurde. Und nun beginnen wir auch zu ahnen, was die Frau im Titel dieses Buches zu suchen haben könnte. Seit es Faust als literarische Gestalt gibt, gibt es den Traum von der idealischen Frau, wohlgemerkt nicht jenem Gretchen, das Faust für seine Lust verbraucht und zerstört und das ihn am Ende erlösen muss, sondern die göttliche Traumgestalt der Helena, die Goethe aus der griechischen Antike ins christlich-moderne Mittelalter holt und sich mit Faust auf offener Bühne begatten lässt. Das Kind dieser Zeugung, der Knabe Euphorion, ihn soll Goethe auch nach dem jugendlich im hellenischen Befreiungskampf gestorbenen englisch-romantischen Dichter Lord Byron geformt haben. Die Helena aber, die der Hexenrechner Zuse sich als ideale Frau vorstellt, für die er seine Maschine erfand, soll nun, so sagt der alte Mann, die als Kind hinterlassene Tochter eben jenes jugendlich früh verstorbenen Lord Byron sein: die Mathematikerin Ada Lovelace.
Der Takt des einleitenden Begrüßers verlangt es unbedingt, an dieser Stelle innezuhalten. Vor Ihren Augen, meine Damen und Herren, öffnen sich nun schon hinreichend weite, so verlockende wie rätselvolle Fluchtlinien. Sie müssen umso reizvoller wirken, als es nicht irgendein tollkühner literarischer Geschäftemacher ist, der sie aufreißt, sondern – ich wage den Superlativ – der handwerklich genaueste, am bedächtigsten kalkulierende, hintergründig gebildetste Schriftsteller unter den Autoren der deutschen Gegenwart.
Ich muss hier niemandem die Biographie und die lange Liste der Werke des 1943 in Rom geborenen Christian Delius vorbeten. Längst gehört beispielsweise seine Romantrilogie zum Deutschen Herbst von 1977 in den Kanon der Gegenwartsliteratur, und es bezeugte nur alberne Unbildung, wenn vor einigen Monaten behauptet wurde, der Fernsehfilm zur Entführung der „Landshut“ zeige diese Geschichte erstmals aus der Perspektive der Opfer – das hatte Delius’ Roman „Mogadischu Fensterplatz“ längst, nämlich im Jahre 1987, getan. Wichtig für uns heute ist nur, dass mittlerweile einige Arbeitsgrundlagen dieses Buches an die Öffentlichkeit gekommen sind: Das Literaturmuseum in Marbach stellt die Toncasetten aus, auf die Delius sich die Funksprüche vom Flughafen Mogadischu in der Nacht der Erstürmung der „Landshut“ überspielt hatte. Ich nenne zwei andere Beispiele für die immer präzise Vorbereitung, durch die Delius seine Fiktionen mit der Wirklichkeit vernäht: Seine Erzählung mit dem nicht zufällig an James Joyce erinnernden Titel „Bildnis der Mutter als junge Frau“ zeigt in erlebter Rede das Innere jener Frau, die mit dem Verfasser schwanger ist und die sich auf dem Fußweg zu einem protestantischen Kirchenkonzert der deutschen Gemeinde im katholischen Rom befindet. Diese unendlich rührende, in einen einzigen langen Satz gefasste Situation lässt sich so genau auf dem römischen Stadtplan lokalisieren, dass man den Rowohlt Verlag ernstlich für die verpasste Chance tadeln muss, weil er es versäumte, diesen Stadtplan im Vorsatzblatt abzudrucken. Und in der Erzählung „Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus“ (auch hier bemerken wir die unverkennbare Anspielung im Titel), die uns den von Seume-Lektüre geweckten Wunsch eines DDR-Bürgers, nach Italien zu wandern, vor Augen rückt, entwirft einen so genauen und praktikablen Plan zur Überwindung der Staatsgrenze der DDR, dass man es bedauert, dass Delius sein Buch erst nach 1989, nämlich 1995, veröffentlichte. Denn wir können sicher sein: Kein Erzeugnis der westdeutschen Literatur wäre so argwöhnisch an den Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik zurückgehalten worden wie dieses.
Wenn Delius nun also den alten Zuse während einer langen Sommernacht aufs Tonband eines Journalisten sprechen lässt – zunächst brabbelnd und verwischt wie ein Peeperkorn, aber bald immer hintergründiger und detailreicher -, dann dürfen wir uns die Enthüllung großer Rätsel erhoffen. Umso mehr, wenn wir ans Ende des Buches blättern, wo der Verfasser Delius Konrad Zuse postum für ein Gespräch im Sommer 1985 dankt und an einen Vortrag Zuses erinnert, den er 1994 an der FU Berlin gehört hat: „Faust, Mephisto und der Computer“. Dieser sei aber „offenbar verschollen“.
(10. Juli 2009)
Ada und das Ei
Friedrich Christian Delius holt den Computer heim
„Hauptsache, Sie kapieren, dass ich endlich mal, wie soll ich sagen, anders reden will. Keine Frackrede, keine Krawattenrede, sondern eher im Arbeitskittel, verstehen Sie?“ Wir verstehen, Herr Delius. Endlich einmal weg vom hohen Stil, von subtil gearbeiteten Satzpassagen. Unpluggend, live und online. „Genau: laut denken, ohne Rücksicht, ohne allzu viel Rücksicht. Das bin ich mir und meinem Alter noch schuldig.“ Friedrich Christian Delius, 66, ist die Exzellenz des kühlen Humors unter den gesellschaftskritischen Schriftstellern der alten Bundesrepublik; der elegante Stilist und dezente Moralist. Was er diesmal seinem frischen vierundachtzigjährigen Helden in den Mund legt, ist nicht nur ungewöhnlich weit entfernt von üblicher literarischer „Feinschmeckerei“; es ist eine knurrige Generalbeichte. Und Konrad Zuse – Ingenieur, Erfinder, Genie – hat viel zu beichten. Sieben Tonbänder, zwölf Stunden lang währt der Monolog des Mannes, der den Computer erfunden hat, genauer gesagt: den ersten programmgesteuerten Rechner der Welt.
Konrad Zuses Prototypen
Was für ein Thema! Noch 1993 entwarf der Philosoph und Kommunikationstheoretiker Villem Flusser das Utopium einer globalen Gesellschaft, „die ein Netzwerk darstellen würde, das sich alle Menschen und ihre Maschinen einverleibt, sozusagen eine künstliche graue Masse“. Jetzt sind wir längst mittendrin; die Megarechner von IBM und Cray, und wie sie alle heissen, haben unsere weichen Gehirne restlos annektiert. Ende der 1980er Jahre fing alles ganz harmlos an: Home-PCs mit bernsteingelber Schrift auf schwarzem Untergrund, die als gedächtnisbegabte Schreibmaschinen und einfache Bildschirmspielprogramme, mit denen man Schach oder eine Art Schiffeversenken spielen konnte, in unsere Behausungen einzogen. Mittlerweile ist unsere biologische Software, verglichen mit den myzelartig vernetzten Suchmaschinen wie Google und Yahoo, nichts weiter als ein chaotischer Zellhaufen, dessen elektrische Relais mit einer untolerierbaren Fehlerquote behaftet sind.
Die weltweite Community der User spricht mit einer Stimme, und zwar auf Englisch. Amerika gilt als Geburtsland des Computers. Wäre es nach Konrad Zuse gegangen, würden wir heute womöglich zuseln statt googeln, und Silicon Valley läge zwischen Oberstoppel und Unterstoppel im Hessischen. Aber es ging nun einmal nicht nach dem jungen Berliner Maschinenbaustudenten, der 1934 beschlossen hatte, Computererfinder zu werden, sondern nach einem gewissen Adolf Hitler, der beschlossen hatte, den totalen Krieg zu erfinden. 1938, als in den USA das Wort googol erfunden wurde, um eine unvorstellbare Zahl mit hundert Nullen benennen zu können, lötete Zuse noch in einer winzigen Berliner Wohnung an seinem ersten Rechner herum, dem Z 1.
Bis 1949 folgten weitere Prototypen, die Z 2 und Z 3, die alle in Hitlers Weltkrieg bei Bombenangriffen vernichtet wurden. 1944 ging der erste amerikanische Grossrechner von Howard Aiken und Grace Hopper in Betrieb. Diese Rechner waren so gross, dass ihre Väter und Mütter hineinkriechen mussten, um ein defektes Relais löten zu können. Als Zuse 1949 an der ETH Zürich seine Z 4 zum ersten Mal öffentlich vorführte, passierte ihm dasselbe. Die Mark I und die Z 4 waren in Aufbau und Technologie weitgehend identisch. Doch sowohl der amerikanische Konzern IBM als auch bundesdeutsche Patentämter verweigerten dem Deutschen, der immerhin als Ingenieur für deutsche Rüstungsbetriebe gearbeitet hatte, die offizielle Anerkennung als wahrer Erfinder des Computers.
Dieser, also der echte Konrad Zuse (1910 bis 1995), hat bei seinem Tod zwei Bücher hinterlassen, „Der Rechnende Raum“, das den Denker Zuse auf den Spuren von Alan Turing zeigt (dem amerikanischen Computerpionier), und die Autobiografie „Der Computer. Mein Lebenswerk“. Die klingt zwar im Ton haargenau wie bei Delius (der einige Spannungsabsacker im chronologischen Hergang des Erfindens denn auch geduldig mitgeerbt hat), lässt aber, wie der hinreissend schlichte Titel schon sagt, die Person hinter ihrem chef d’œuvre recht sachlich zurücktreten. Was ihr fehlt, ist das Visionäre, die Dimension des Mythischen, die Poesie des Beginnens, der Moment der Inspiration, wie ihn alle grossen Entdeckungsgeschichten der Menschheit seit den Sandkreisen des Euklid und Kolumbus‘ Ei aufweisen können.
Zuses Ei heisst Ada Lovelace. Aus dem authentischen Vorbild des Konrad Zuse hat Delius eine Kunstfigur geschaffen, die dem Original dies vor allem strahlend voraushat: Ada. Als Mitarbeiterin des Mathematikers Charles Babbage lieferte Ada Augusta Byron, Countess of Lovelace (1815–1852), einen mathematischen Algorithmus auf der Grundlage des binären Zahlensystems, der als erste Programmiersprache der Welt noch heute ihren Namen trägt – während die dampfbetriebene Rechenmaschine von Babbage, für die sie gedacht war, nie gebaut wurde. Ada ist „die Frau, für die ich den Computer erfand“. Die Tochter des britischen Dichters Lord Byron – klassisch schön, kühl, hochbegabt, temperamentvoll, wagemutig – war eine der bedeutendsten Wissenschafterinnen Englands. Bei Delius heissen Zuses Rechenungetüme denn auch nicht Z, sondern A wie Ada 1 bis 4; Ada ist die virtuelle Traumfrau, sein tiefstes Geheimnis, die „ewig-weibliche Triebkraft“, die ihn hinanzog, wenn schon sonst niemand es machte.
Erzähler im Arbeitskittel
So finden sich zwei, über die der Zug der Zeit hinweggerollt ist, ohne sie mitzunehmen in die Zukunft. Zwei „Zufrühgekommene“, zwei Genies, die für ihre Erfindungen weder Ruhm noch Reichtum oder Ehre ernteten; der eine, weil er das Pech hatte, ein Hitler-Deutscher zu sein, und die andere, weil sie eine Frau im 19. Jahrhundert war. Diese love story zwischen einem deutschen Erfinder und einer britischen Mathematikerin stellt nicht unbedingt die historische Gerechtigkeit wieder her, aber wenigstens die biografische. Weil sie die Ja-Nein-Logik der binären Zahlen mit Phantasie durchkreuzt. Weil Maschinen nur zwischen zwei Zuständen unterscheiden, 0 und 1, aber nicht träumen können. Mit andern Worten: Liebe in den Zeiten der binären Logik ist ein rein virtuelles Vergnügen, was die epidemische Verbreitung von Chatten, Twittern und Mailen hinlänglich beweist. Das macht User zu natürlichen Verbündeten von Lesern. Delius hat sein kleines Gedankenexperiment so geschrieben, dass es zur Not auch Googler und Chatter lesbar finden könnten, die mit streng gebauten Wortbeiträgen à la Proust oder Faulkner nicht so viel am Hut haben. Literatur für User sozusagen: der Erzähler im Arbeitskittel, Virtuosität im Werkzeugmodus.
(Beatrix Langner, Neue Zürcher Zeitung, 18. Juli 2009)
Faust in Kreuzberg
Erfinder und Zärtlichkeitsapostel: Friedrich Christian Delius und sein Roman über Konrad Zuse.
Irgendwo im Hessischen, „zwischen Oberstoppel und Unterstoppel“, was klingt, als sei es von Jean Paul, redet ein alter Mann ziemlich viel. Er hält seinem Gegenüber, einem jungen Journalisten, einen Sermon über sein Leben und Werk, den faustischen Drang und die nicht vergehende Liebe zur imaginären Frau. Der 84-Jährige hat die Feier seines 14. Doktorhutes geschwänzt und will, für wenn er tot ist, dem Tonband seine rückhaltlose Lebensbeichte anvertrauen. Die Fragen des Interviewers sind gelöscht, so dass sich ein zusammenhängender Monologroman ergibt: „Die Frau, für die ich den Computer erfand“.
Es handelt sich um die Suada einer historischen Gestalt: Eine ganze Nacht lang spricht Konrad Zuse (1910–1995), Mathematiker und Erfinder, Goetheversteher, Kunstfreund und Fernliebhaber. Er ist der frühe Maschinist des Computerzeitalters. Er hat in den dreißiger Jahren in seiner Kreuzberger Wohnküche als Erster an einer „Universal-Rechenmaschine“ gebastelt, hat sie in mehreren Prototypen entwickelt und sich eine Programmiersprache ausgedacht.
So, wie Friedrich Christian Delius ihn erzählen lässt, ist er manchmal voller aufkochender Wut, meistens aber ein befriedeter Verzichter. Noch einmal taucht er zurück in die Vorzeit des Digitalen, zur Mechanik, beschreibt seine Rechenmaschine „aus dem Geist des Stabilbaukastens“, als ingeniöse Bastelei. Die in den USA hatten Forschungsgeld und geheime Labors, Zuse hat die Bleche mit einer Art Laubsäge in Form gebracht und als Lochstreifen die Zelluloid-Abfälle der Ufa verwendet.
Immer rumpelt, rattert und klemmt etwas an diesen Behelfsausgaben einer groß geratenen Erfindung. Er will nur ein kleiner Faust gewesen sein, und mit Mephisto wollte er nichts zu schaffen haben. Aber er gibt denn doch zu, dass er auch für Peenemünde gearbeitet hätte, wenn der Anruf gekommen wäre. Er weiß sich umgeben von nächsten Verwandten: dem Mitläufer, dem Fachidioten, dem politischen Drückeberger und dem egomanischen Pläneschmied.
Im Zweiten Weltkrieg werden seine Typen, A1 bis A3, zu Schrott bombardiert. Mit der letztentwickelten zieht er, sich wappnend gegen ein Meer von Verdacht und die Tiefflieger, nach Süddeutschland, wo er nach dem Krieg eine mittelständische Existenz aufbauen kann.
In Zürich dann der Nachkriegstriumph: Die A4 läuft und läuft, wird als der erste funktionstüchtige Computer in Europa gefeiert. Aber da hatten ihn die amerikanischen Erfinder Alan Turing und John von Neumann schon längst überholt. Er war, im Nazireich abgeschnitten, nicht in der Lage, seine Innovation patentrechtlich durchzusetzen. So ist er mit seinem Erstgeburtsrecht ins Hintertreffen geraten, erscheint als verspätete Figur. Er selbst bezeichnet sich bei Delius als „Zufrühgekommener“.
Mit der Rollenprosa des Monologs ist Delius vertraut: Weiland in der legendären Dokumentarsatire „Unsere Siemenswelt“ zum Beispiel war ein Festredner in die wirklichen Firmengeheimnisse eingedrungen und hatte sich damit eine Tarnkappe aufgesetzt.
Zuses Suada arbeitet mit dem Muster einer vorgestellten Authentizität: bildet krause Sätze der Gedankenverlorenheit, des emphatischen Pathos, des Stummeldeutsch, ist durchsetzt mit vielen Punkten als den Satzzeichen des Schweigens. Bei dieser erfundenen Mündlichkeit verheddert sich der Redner auch in Redundanzen und schweift ab: Man muss sich bei Zuse auch auf Jägerschnitzel und Himbeeren und andere Banalitäten der Kunstform authentischer Rede einstellen.
Der Monologiker Konrad Zuse auf seinem Zauberberg in der hessischen Provinz hat gerade wegen seiner Redseligkeit aber auch etwas vom Stummfilmhelden: eine komische Untergangsfigur wie Buster Keaton, der seinen Schmerz hinter der Maske eines verwegenen Stoizismus verbergen will.
Der Roman-Zuse ist zeitlebens auf eine große Liebe abonniert: auf Ada Augusta Byron, Countess of Lovelace. Sie war Mitarbeiterin des Mathematikers, Nationalökonomen und Projekteurs Charles Babbage im 19. Jahrhundert, sie erfand eine erste Programmiersprache. (Leider erfährt man im Roman nur Dürftiges über Babbage, diesen Vorausdenker und genialen Pläneschmied, deshalb sei auf die Biografie von Anthony Hyman verwiesen.) Sie ist die Traumfrau des Erfinders, seine Fee, seine Helena und seine Regentin. Die Liebe zur Rechenmaschine und die Neigung für sie sind gleichgeschaltet. Sie ist „die Frau, für die ich den Computer erfand“. Zuse sitzt im Roman unter einem ausgestopften balzenden Auerhahn und redet von seinem Ada-Verlangen, vom ewig Weiblichen, das ihn hinanzieht. Er ist ein Zärtlichkeitsapostel im Traum und zugleich auf seine alten Tage ein Begehrenskomiker.
Ada ist die Ausflucht aus dem Dasein des Logikers und seiner Maschinen, die nicht träumen können. Und zugleich ist sie eine virtuelle Figur, dem Computerhirn entsprungen, eine Homunkula. Mit solchen Irritationen und Doppeldeutigkeiten spielt Delius ziemlich elegant. Es gehört ja schon ziemlich viel planerisches Kalkül dazu, die binäre Logik und das Kauderwelsch der Mathematik lesbar zu machen. Der Roman besticht durch den Umgang mit dem Risiko, eine historische Person, die überdies Memoiren geschrieben hat, durch leichte Verschiebungen in eine Romanfigur zu überführen. Ada ist die Fata Morgana des Erfinders, gleichsam das inzestuöse Wesen – auch Vladimir Nabokovs „Ada“-Roman spielt eine Lesart vor.
(Wilfried F. Schoeller, Der Tagesspiegel, 2. August 2009)
Stefan Höltgen über das Hörbuch
Autobiografische Romane liegen Friedrich Christian Delius und man kommt nicht umhin, den doppelten Widerspruch in dieser Aussage zu bemerken: Wie kann eine Autobiografie so fiktional sein, dass sie zum Roman wird? Und wie kann man mehrere verschiedene Autobiografien verfassen? Nun, Zweiteres wäre zumindest dann möglich, wenn man viel Zeit und zu erzählen hat. Da Delius aber die Autobiografien anderer verfasst, tut sich gleich ein weiteres Absurdum auf: Wie können die autobiografisch sein? Derartige Widersprüche gehören zum Interessantesten, was postmoderne Literatur zu bieten hat – und sie werden noch interessanter beim Hörbuch. Das vorliegende Hörbuch erzählt die Autobiografie von Konrad Zuse als Roman mit viel Wahrem und Erfundenen. Und wessen Stimme erzählt uns diese Autobiografie? Natürlich F. C. Delius‘ Stimme und selbstverständlich aus der Ich-Perspektive. …
Stefan Höltgen (Auszug vom 6. Mai 2010 in retromagazine.eu)