Friedrich Christian Delius, FCD

Buch: Deutscher Herbst

Deutscher Herbst
Ein Held der inneren Sicherheit. Mogadischu Fensterplatz. Himmelfahrt eines Staatsfeindes.
Trilogie in einem Band

720 S., Tb
€ 12,00
ISBN 978-3-499-22163-7

 


Deutscher Herbst 1977: ein Karrierist ist vollkommen verunsichert, als sein Chef gekidnapt wird; eine Frau erlebt die spektakuläre Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“; das Begräbnis dreier Staatsfeinde wird wie ein Volksfest gefeiert.
F.C. Delius‘ Romane über den deutschen Herbst – „Ein Held der inneren Sicherheit“, „Mogadischu Fensterplatz“ und „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ – sind eine Auseinandersetzung mit dem Terrorismus und seinen Folgen, die in der Literatur der Bundesrepublik einzig dasteht.

Gespräch mit dem Badischen Tagblatt: „Der einzelne Mensch im historischen Augenblick“

Ein Essay zum Thema: „Die Dialektik des Deutschen Herbstes – das Terrorjahr 1977 und die Folgen“

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Beunruhigende Gegenwart

Kein Romanwerk hat den „Deutschen Herbst“ so komplex beschrieben und dessen Folgen so verstörend vorweggenommen wie die Trilogie von Friedrich Christian Delius.

Ein unermessliches Datensammeln, damals schon. Denn nicht erst der Fernsehkrimi hat das Profiling auf unser aller allabendliche Tagesordnung gesetzt. Das Erstellen eines Täterprofils ebenso wie eines Opferprofils versprach schon vor 40 Jahren Aufklärung. Aufklärung in einem kriminalistischen Sinne, in den ersten Tagen nach der Entführung, während der Wochen der Ungewissheit, in denen der aktuelle Stand des Schreckens in der Tagesschau gezeigt wurde, „vielfach vergrößert“, ausgedehnt zu einem Bild der Verstörung.

1981, vier Jahre nach den Ereignissen, veröffentlichte Friedrich Christian Delius seinen Roman „Ein Held der inneren Sicherheit“. Das Romandebüt des 38-Jährigen, bis dahin ein Lyriker und Dokumentarsatiriker, wurde 1987 fortgesetzt durch „Mogadischu Fensterplatz“ sowie die „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“, womit 1992, nach elf Jahren, die Trilogie abgeschlossen war. Sie wurde dann 1997, längst so verstanden, unter dem Titel „Deutscher Herbst“ zusammengefasst, als Taschenbuch in einem Band, auf 715 Seiten.

Die Republik erlebte eine Mobilmachung

Die wirklichkeitsgesättigten Bezüge waren offensichtlich. Die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF, Fahndung und Nachrichtensperre, die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ nach Mogadischu, die Ermordung Schleyers, die Selbstmorde von Stammheim: „So viel hausgemachten deutschen Mord“, so hat sich Delius soeben erst erinnert, „hatte es seit 1945 nicht gegeben.“ Durch Delius’ literarischen Zugriff auf eine bundesdeutsche Episode lieferte sich die Nation, um sich nicht der Erpressung einer Terrorbande auszuliefern, der Aufrüstung des Staates aus.

Delius’ Roman musste kein Enthüllungsroman sein, um deutlich zu machen, dass der entführte „Menschenführer“ Alfred Büttinger unverkennbar Züge des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer trug. Durch den Menschenraub ist die Karriere des Emporkömmlings Roland Diehls gefährdet. Schneidiger Chefdenker im „Verband der Menschenführer“, schneidiger Oberleutnant der Reserve, schneidiger Rallyefahrer, fixer Ghostwriter, macht ihn die Entführung zu einem Opfer seiner fortlaufenden Haltlosigkeit.

Eingeholt wird der so agile wie anpassungsfähige Staatsdiener von einer nicht zu kontrollierenden Beweglichkeit. Ein Begriff, auf den sich Diehl und die Bewusstseinsarbeiter um ihn herum etwas einbilden, ist das Wort mobil. Tatsächlich steht die Republik vor einer Mobilmachung. Denn während die Fernsehnation allabendlich auf die Tagesschau starrt, gebannt vom neuesten Stand der Entführung Büttingers, stecken die Strategen der neuen Medien in ihren Meetings die Köpfe zusammen, um, 1977 (!), die Weichen für den Durchbruch der Breitbandkabeltechnologie zu stellen, eine Entscheidung, „bedeutsamer als die Frage der Kernenergie“. Multimedia ist seit diesen Tagen ein strahlender Begriff, die Halbwertzeit von Marketingwörtern wie „Motivationsimpuls“ ist bis heute nicht abgelaufen.

Der Roman erzählt von einer Kolonisation der Köpfe und einer zunehmenden Konfusion. Mit dem Verlust der „inneren Sicherheit“ des Staates einher geht die innere Unsicherheit eines Staatsdieners. Büttinger hatte sich als ein „Meister in jeder Situation“ erwiesen, als ein Mann mit NS-Vergangenheit, zu der er stand, nicht sentimental, sondern munter. Diehl erinnert sich an einen beneidenswert souveränen Streitgesprächsführer, einen jovialen Demokraten. Mit ihm geht dem Staat ein „Beschützer“ verloren, der jedoch bereits vor Bekanntgabe seiner Ermordung „als Verlust abgeschrieben“ wird.

Abgeschrieben fühlt sich auch die Ich-Erzählerin in „Mogadischu Fensterplatz“. Gefangen in einem „hochexplosiven Sarg“, bei bis zu 60 Grad, eingesperrt in einem bestialischen Gestank, ausgeliefert einem wild entschlossenen Killerkommando, die Leiche des ermordeten Flugkapitäns vor Augen, erlebt sie eine von Ultimaten getaktete Existenz. Das Geiseldrama wird erzählt aus der Perspektive der Andrea Boländer. Aufgefordert, auf einem skandalös gewissenhaften Fragebogen Rede und Antwort zu stehen, löst die gewissenlose bürokratische Neugier die minutiöse Vergegenwärtigung eines mehrtägigen Alptraums aus, in dem ein so brutaler wie pathetischer Terrorist Gericht hält über Tod oder Leben. Zum vorläufigen Nichttod gehört, dass er über den Bordlautsprecher verkündet, dass die Frist noch einmal verlängert worden ist, die „deadline“.

Indem Delius den Realismus seiner Geschichte einer berstenden Spannung aussetzt, halluziniert die Geisel sich in eine Lage, in der die Befreier die Züge der Kidnapper annehmen. Die Romanfiktion behandelt eine Vielzahl der realen Bezüge als Lüge. In der Halluzination findet der historische Irrsinn zu sich selbst, eine medial aufgeputschte Hysterie: „Auf der Flucht vor den Schüssen und Schreien längst nicht in Sicherheit, rannte ich“, lief sie in „einen Film hinein, ich war eine Darstellerin, ich lief direkt in eine Tagesschauszene.“

Als ein Medienereignis erst recht und eines der grotesken Art stellt sich die „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ dar. In der Konfrontation zwischen dem „höchsten Ordnungshüter des Staates“ und dem „obersten Terroristen“ (Delius) stehen sich die Feinde als Figuren gegenüber, die sich gegenseitig brauchten, der Oberfahnder Schäfer alias Horst Herold, der Terrorist Sigurd Nagel alias Andreas Baader. In den Sekunden seines Todes läuft noch einmal sein Lebensfilm ab. In den Augenblicken der Euphorie werden die Feinde des Staates in einem Staatsakt pompös zu Grabe getragen.

Der fiebrige Bewusstseinsstrom einer aufgewühlten Zeit, erzählt von zwei weiteren Protagonisten einer angegriffenen Sicherheit, pulsiert durch die Prosa. Delius’ „Deutscher Herbst“, mit raffinierten Perspektivwechseln, seiner ausgeklügelten erlebten Rede, mit innerem Monolog oder auktorialer Erzählhaltung, mit seinem kunstvoll geführten, unbeweglichen Kameraauge oder einem innerlich hochgradig zerrissenen Ich, unterzog einen Wendepunkt deutscher Geschichte einer literarisch komplexen Behandlung.

Das Sicherheitsbedürfnis wird zum Sicherheitswahn

Der Aufruhr, der die Roman-Republik erfasst hat, mündet in einer schrillen Versöhnung der Nation. Ein irrer Karneval, der da durch Wiesbaden zieht, die Garnisonsstadt des Bundeskriminalamtes. In einem Mummenschanz wird nicht allein die großzügige Versöhnung des Staates mit den Staatsfeinden gefeiert, vielmehr eine Würdigung der Verbrechen vorgenommen, geht doch manchem Beteiligten auf, dass die Wiedergeburt einer Nation aus dem Geist und Gewaltakt der Terrorabwehr geschah. Man war wieder wer, eine plötzlich wieder selbstbewusste Nation.

Aus der Perspektive der Trilogie ist Deutschland durch den „Deutschen Herbst“ nicht etwa reifer geworden, sondern ein Staat bloß potenter. An die Stelle der Gefangenschaft in dem Metallgehäuse eines Flugzeuges ist das stählerne Gehäuse des Bundeskriminalamtes getreten, darin ein Chefpilot des Ausspähens und Kontrollierens. Aus dem Flugzeugfensterplatz von Mogadischu ist der Monitor zum Fensterplatz des Überwachungsstaates geworden. Im Roman wird das Sicherheitsbedürfnis des Staates als Sicherheitswahn dargestellt. „Draußen schwirren Tausende von Kollegen durchs Land, ausgeschwärmt wie jeden Tag, unermüdlich auf der Suche nach Tätern und trächtigen Beweisen.“ Gerade mit seiner Groteske war Delius seiner Zeit weit voraus. Aus Jahrestagsperspektive liest sich die literarische Antizipation als Analyse einer beunruhigenden Gegenwart. In den Datenbanken des BKA „wird die Karriere künftiger Täter schon gewürdigt, noch ehe die sich zu ihrer Tat entschlossen haben.“

Das Erbe der RAF ist eine verheerende Hypothek. Das ist ihr feixender Triumph, dass sie das Misstrauen in den Staat gesät hat, und die für den Bürger geltende Unschuldsvermutung in den Köpfen von Politikern und Staatsschützern aufgelöst hat. Delius’ Trilogie erzählt von Anfängen einer hysterischen Kontrollfiktion vor bereits 40 Jahren. Aus dem Datenfluss gewinnt die Figur des Datensammlers ihre Erkenntnis – ihre Arbeitsplatzgarantie, schon vor vier Jahrzehnten eine aus dem Geist des Algorithmus: „Jeder Tote wird ersetzt durch zehn Verdächtige aus dieser oder der nächsten Datei.“ Die aus der Logik der Terrorbekämpfung sich ergebenden Verluste an Freiheit sind bis heute nicht abgeschrieben.

(Christian Thomas, Frankfurter Rundschau, 03.09.2017)

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