Buch: Bildnis der Mutter
Bildnis der Mutter als junge Frau
Erzählung
128 Seiten
€ 14,90 / sFr 26,80
ISBN 978-3-87134-556-2
rororo taschenbuch Werkausgabe
128 Seiten, € 8,99 [D]
ISBN 978-3-499-25992-0
rororo Großdruck
160 Seiten
€ 8,95
ISBN 978-3-499-33261-6
Rowohlt Digitalbuch
€ 6,99
ISBN 978-3-644-10091-6
Rowohlt Berlin Verlag
Amerikanische Ausgabe:
Farrar, Straus and Giroux, New York 2012
Portrait of the Mother as a Young Woman. A Novel
Translated from the German by Jamie Bulloch
128 pages, Trade Paperback $13.00 / Ebook $9.99
ISBN: 978-0-374-53329-8
Übersetzungen
– ins Italienische: „Ritratto della madre da giovane“. Im Verlag Archinto, Milano,
übersetzt von Gianlupo Osti.
– ins Türkische: „Annenin Genc Kadin Olarak Portresi“. Im Ithaki Verlag,
übersetzt von Vedat Corlu.
– ins Schwedische: „Porträtt av modern som ung“. Im Tranan Verlage,
übersetzt von Jan Erik Bornlid.
– ins Englische: „Portrait of the Mother as a Young Woman“. London 2010,
Peirene Press Ltd., übersetzt von Jamie Bulloch.
– ins Niederländische: „Portret van een moeder als jonge vrouw“, Verlag van gennep, Amsterdam 2011, übersetzt von Elly Schippers.
– ins Spanische: „Retrato de la madre de joven“, Salajín editores, Barcelona 2011, übersetzt von Lidia Álvarez Grifoll.
– ins brasilianische Portugiesisch: „Retrato da mãe quando jovem“, Tordesilhas Editorial, Sao Paolo 2013, übersetzt von Luis S. Krausz.
– ins Mazedonische in Vorbereitung.
*
Rom, am einem sonnigen Tag im Januar 1943. Eine junge Deutsche, 21 Jahre alt, die kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes steht, begibt sich auf einen Spaziergang durch die ihr fremde Stadt. Ihr Mann, mit dem sie zusammenzuleben hoffte, ist überraschend an die afrikanische Front versetzt worden, der Zeitpunkt seiner Rückkehr ungewiss. Trotz der verwirrend schönen Eindrücke und all der rätselhaften Dinge, die ihr auf ihrem Weg begegnen, ist sie mit jedem Gedanken bei ihm, der versprochen hatte, die „römischen Freuden“ mit ihr zu teilen. Doch sie beginnt zu ahnen, dass der Krieg verloren gehen könnte.
In dieser Erzählung greift Friedrich Christian Delius seine eigene Familiengeschichte auf. Die junge Frau, die mit offenen Augen, bangem Herzen und nicht nachlassender Hoffnung durch die von Bomben noch verschonte Ewige Stadt läuft, ist seine Mutter. Ob es nun dieser autobiographische Bezug ist oder der Zauber Roms, die Ängste des Krieges oder die einfühlsam erzählte Liebesgeschichte – dieses Buch entwickelt eine Sogkraft, der man sich kaum entziehen kann.
„Ein kleines Meisterwerk … eine Liebeserklärung an die Stadt Rom und an die Mutter.“ Katharina Döbler, Die Zeit
„Eine wundervolle Erzählung … ein makelloses, klassisch modernes Stück Prosa.“
Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung
„Ein großes Zeitbild auf kleinem Raum … Delius ist ein Nachfolger Wolfgang Koeppens, im schönsten Sinne: mit dessen Gespür für musikalische Phrasierung, für Leitmotivik und das rhythmische Gefälle der Assoziationen, aber ohne Manierismen.“
Heinrich Detering, FAZ
„Delius‘ langer Satz über seine Mutter ist eine Meditation, deren Syntax ins Zeitlos-Unendliche weist … Die ungewöhnliche Schlussstellung der Verben, der leichte Fluss der Sätze, die kleinen Sprünge über Absätze hinweg geben den mütterlichen Spaziergängen durch Rom etwas Körperliches, Drängendes, in dem man die Schwangerschaft spürt, das strampelnde Leben, das triumphierend über die römischen Altertümer hinweggetragen wird. Alles Autobiografische wird durch die Form getilgt, kein voyeuristisches Zwinkern, kein Besserwissen …“
Beatrix Langner, Literaturen
„Diese Erzählung ist nicht nur mutig, sie ist wunderbar … ein mitreißendes Meisterwerk.“
Stefan Tomas, www.literaturkritik.de und Neue Westfälische
„Ein wunderbares Buch, … das mich sehr heiter gemacht hat.“
Ulrich Wickert, „Wickerts Bücher“, ARD
„Delius ist ein kleines Meisterwerk gelungen … Spannung und Elastizität dieses langen Satzes, dieser großartigen Erzählung sind gewaltig.“
Eckhard Fuhr, Literarische Welt
„Ein Meisterwerk an Anmut und historischem Scharfblick …“
(Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 15.10.06)
„Ein Mutterbuch, in dem mit einem treudeutsch-lutherfesten Horizont ein Spiel getrieben wird, das so ironisch ist wie dekuvrierend, vor allem aber von herzzerbrechender Zärtlichkeit.“
Andreas Nentwich, Der Spiegel
„Es ist ein fließendes, manchmal auch sprunghaftes, nur durch Kommata sichtbar rhythmisiertes, in kurzen Absätzen durch Leerzeilen zum Atemholen voneinander abgesetztes Erzählen, das Delius hier erprobt. Ein aus Erinnerungen, Stimmungen und Beobachtungen zusammengesetztes Textgewebe, das angelegt ist als ein einziger Satz.“
Jochen Jung, Der Tagesspiegel
Zwischen Kreuz und Hakenkreuz
Zu norddeutsch, zu evangelisch, zu jung: F. C. Delius‘ ergreifender Text über seine schwangere Mutter im Rom der Kriegszeit
Der Arzt hatte es ihr empfohlen: „Laufen Sie, junge Frau, laufen Sie“, hatte er ihr gesagt, als habe er mit diesem ersten Satz nicht nur der hilflosen Frau eine Aufgabe, sondern dem Autor auch den Einsatz für seine zauberhafte Erzählung geben wollen. Sie ist hochschwanger, allein in der Fremde, und sie wird ihn beim Wort nehmen. Zum Beispiel an diesem Sonnabend im Januar 1943. Vom Diakonissenheim in der Via Alessandro Farnese wird sie bis zur deutschen lutherischen Kirche in der Via Sicilia laufen. Das ist eigentlich kein weiter Weg, ein längerer Spaziergang nur, aber es ist, als passte ein Leben dort hinein, eine ganze Existenz, ja die Verstrickungen mehrerer Generationen.
Eine Stunde nur wird sie brauchen, von einer „deutschen Insel“ zur anderen, quer durch das „undurchschaubare, unheimliche Meer namens Rom“. Begleitet wird sie nur von ihrem ungeborenen Kind, dem Erzähler und Autor, der gut sechzig Jahre später ihren Blicken und Gedanken folgt, der ihre Gefühle und Sehnsüchte protokolliert, nein imaginiert, denn Gefühle, das hämmert sie sich ein, sind im Krieg ja verboten.
Sie darf sich ihre Sehnsucht nicht anmerken lassen. Auch nicht ihre Enttäuschung und nicht ihre Angst. Die Enttäuschung darüber, dass ihr Mann, der dank seiner Verletzung von der Ostfront nach Rom versetzt worden war, wo er hätte predigen sollen, ihr „römische Freuden“ versprochen hatte, um ihr am Tag nach ihrer Ankunft auf dem Pincio in dieser ewig genannten Stadt anzukündigen, dass er trotz Beinverletzung am nächsten Tag nach Afrika muss: Abstellungsbefehl! Und auf keinen Fall darf sie Angst zeigen: Angst vor dem möglicherweise Unabwendbaren, dem Gottgewollten, Angst vor dem Tod des Geliebten, der sterben könnte, noch bevor sie das neue Leben zur Welt bringen wird.
Friedrich Christian Delius ist ein Kunststück gelungen: Das mögliche Gespräch einer werdenden Mutter mit dem ungeborenen Kind in den unmöglichen Dialog eines Sohnes mit der längst verstorbenen Mutter zu verwandeln. Denn diese Bildnis der Mutter als junge Frau ist das seiner eigenen. Es ist er, der Autor, der im Bauch der Mutter durch Rom getragen wird, und der ihr sehr viel später dieses schöne, schnelle, intensive Bildnis aus Worten widmen wird, klar und verschwommen zugleich.
Delius‘ Erzählung ist große Literatur auf kleinem Raum. Denn obwohl man angesichts dieses zarten, unsentimentalen Werkes vor dem großen Wort Liebe scheut, so ist es genau das und alles zusammen: Liebeserklärung einer jungen Frau an ihren Mann, eines Sohnes an seine Mutter, eines Autors an seine Stadt.
Nun wäre das allein noch keine literarische Auszeichnung an sich. Was so überzeugt an diesem Bildnis, ist die gelungene Synthese der Einfachheit der Sprache mit der Ambition der Form. Denn auf dieser kurzen Wegstrecke zwischen Via Alessandro Farnese und Via Sicilia hat sich Delius an den jungen Schatten seiner verstorbenen Mutter gehängt, um, Schritt für Schritt, Absatz für Absatz, ohne einen einzigen Punkt, atemlos und fesselnd im Rhythmus, eine eigene, in sich widersprüchliche Form für das Zusammentreffen von Gegensätzen zu finden: des norddeutsch Protestantischen mit dem überschwänglich Katholischen, der Liebe mit dem Krieg, der Hoffnung auf Neuanfang mit der Angst vor dem Tod, der Gegenwart mit der Vergangenheit.
Delius hat seine Mutter nicht idealisieren wollen. Er hat sie in ihren Widersprüchen zugelassen, in ihrer Klugheit und Unbeflissenheit, ihrem Mut und ihrer Angst, in der Konfrontation ihres kleinen Lebensentwurfes mit dem großen Krieg. Denn diese 21 Jahre junge Frau aus Doberan in Mecklenburg-Vorpommern, Tochter eines Korvettenkapitäns, die brav beim BDM war, träumt von nichts anderem als Frieden, von einem kleinen „Leben ohne Zittern und Bangen im beschaulichen Takt des Kirchenjahres“. Sie fühlt sich bisweilen „zu evangelisch, oder zu norddeutsch oder zu jung“ in Rom. Weshalb ihre protestantische Erziehung gegen den schönheitslüsternen Überfluss des Katholizismus ankämpft, ihr gesundes Selbstbewusstsein gegen die Bildungshuberei der deutschen Romreisenden. In ihrem Innern ficht sie den Konflikt zwischen „Kreuz und Hakenkreuz“ aus, und lässt, ganz langsam, die Kritik an einem Krieg zu, der „leider noch nicht gewonnen und zum Glück noch nicht verloren“ war.
Wie ein basso continuo schwingt dieser Irrsinn des Krieges mit: Denn schon der eigene Vater hatte sich bei der Marine verpflichtet, „für seinen geliebten Kaiser Schiffe versenkt“. Einer seiner Brüder war als Militärflieger abgestürzt, der andere in Frankreichs Schlammgräben gefallen. Erst nach dem Krieg entschloss sich der väterliche Körper, den Dienst zu quittieren. Der Vater begann an unerklärlichen Lähmungen zu leiden und wurde, als sich sein Zustand besserte, Prediger. So schließt sich am Ende der Kreis: Gert, der Mann, durfte wegen seiner Verletzung nicht viel laufen. Und während sie alle Hoffnung auf das kranke Bein ihres Mannes setzt, läuft sie durch Rom, für den Vater, den Mann und auch für den Sohn. Als liefe sie um das Leben.
Eine Stunde braucht sie für den Weg von der Via Alessandro Farnese bis hin zu Kirche in der Via Sicilia, der Autor knapp 130 Seiten, die mit dem Vorsatz der Mutter enden, einen „langen, langen Brief“ zu schreiben. Es herrscht, nach der Lektüre, dieselbe „gelöste, heitere Stille“ wie in der Kirche, wo sie Bachs Kantate Nr. 56 gehört hatte. Als wäre ein Schlusschoral verklungen und als gäbe es, vielleicht keine Erlösung, aber doch Versöhnung durch die Literatur.
(Martina Meister, Frankfurter Rundschau, 28. Februar 2007)
Die ewige Stadt und das neue Leben
Friedrich Christian Delius zeichnet das „Bildnis der Mutter als junge Frau“
Ungezählte Wege führen durch Rom, einer bedeutungsvoller als der andere. Wer mag, kann auf den Spuren von Caesaren, Märtyrern oder Päpsten gehen,noch schöner sind vielleicht die Pfade der vielen Fremden, die ihre Blicke und ihre Gedanken zu Papier gebracht haben.Jede große europäische Literatur hat ihr Rom-Kapitel, und über den Trümmern und Kuppeln der Ewigen Stadt türmt sich ein unsichtbarer Berg von Poesie und Reflexion. An keinem Ort der Welt sieht man so viel Gesehenes, ist das Hier und Jetzt so durchleuchtet von vorhergehender Erfahrung. Schön ist das und auch furchtbar.
Friedrich Christian Delius hat diesem wispernden Berg eine neue Stimme hinzugefügt, der es gelingt, seiner erdrückenden Gewalt zu entrinnen und doch der Stadt Rom ihre ganze hintergründige Poesie zu lassen. Seine Erzählerstimme begleitet über gut hundert Seiten eine junge, erst 24 Jahre alte Frau an einem Samstagnachmittag im Januar 1943 auf ihrem Weg von einem deutschen evangelischen Mütterheim zur deutschen protestantischen Kirche, wo ein Konzert stattfinden wird.
Diese Frau ist hochschwanger, trotzdem geht sie zu Fuß, weil es ihr guttut, wie ihr der Arzt versichert hat, und weil sie sich vor Zudringlichkeiten im Autobus fürchtet. So spaziert sie die nicht ganz kurze Strecke von der Via Alessandro arnese im Viertel Prati über den Ponte Margherita zur Piazza del Popolo, vorbei an der Spanischen Treppe quer über die Via Veneto bis zu Via Sicilia, wo die deutschen Lutheraner ihre Kirche haben – der Weg ist so genau markiert, dass der Verlag ohne weiteres einen Stadtplan ins Vorsatzblatt hätte drucken können.
Die wandernde Frau ist auch innerlich heftig bewegt, und alles fließt ihr zusammen: der schöne milde Winternachmittag, die bedrängenden Eindrücke von Denkmälern und Gebäuden, aber auch ihre eigene Situation, das zur Geburt reifende Kind, der in Afrika zum Militär eingezogene Ehemann, ein deutscher Geistlicher, der sie in Rom zurücklassen musste, wo es ihr gut geht bei den evangelischen Schwestern, in der Stadt von Kunst und Papst, die wohl nicht bombardiert werden wird – und wo sie doch zugleich unglücklich ist, fern vom ersehnten Mann und fern von der geliebten Heimat Mecklenburg mit ihren strengen schönen Backsteinkirchen.
Seit der französische Dichter Du Bellay im sechzehnten Jahrhundert mitten im herrlichen Rom von der Sehnsucht nach den schlichten grauen Häusern an der heimatlichen Loire gepackt wurde, kennt die Rom-Literatur auch das Heimweh – die Sehnsucht weg von der Pracht und dem Übermaß Roms. Delius“ wundervolle Erzählung hat diesen Zwiespalt – die berauschende Präsenz Roms und die Heimatliebe des nördlichen Fremden – zu einer vielstimmigen Musik gemacht. Gabelgötter und Fischmenschen, also Neptun mit dem Dreizack und einen Tritonen, sieht die evangelische Frau, mythologisch und kunsthistorisch wenig versiert, auf ihrem Weg, heidnische Bilder, auf den Schnauzen stehende Fische, einen Bienenbrunnen, girlandenschwingende Putten, die Nadeln der Obelisken, geschwungene Treppen: Bei diesen mag sie nicht an „Barock“ denken, sondern, als treue Bibelleserin und Tochter eines Erweckungspredigers, eher an die Jakobsleiter im Alten Testament.
Damit kommt die historische Situation ins Spiel: Deutschland und Italien, in diesem Augenblick noch verbündet, sind im Krieg, und die Feinde heißen auch hier Bolschewisten und Juden. Rom scheint sicher, aber der Hass dröhnt auch durch diese Stadt, wo eine gebildete deutsche Gemeinde – Delius“ Text nennt für Kenner berühmte Namen wie Leo Bruhns – sich durchaus mit nationalsozialistischer Ideologie ins Benehmen setzen muss. Die fromme evangelische Frau, den Kopf voller Bibel, also voller Judentum, aber auch ansprechbar von völkischen Gemeinschaftserlebnissen, mag den lauten Hass nicht. Sie mag auch die katholische Pracht nicht, die ihr heidnisch vorkommt. Hoch über dem Kapitol und der den Glauben bedrückenden Peterskuppel schwebt ihr im Kopf Luthers Wartburg. Und die Kirche an der Piazza del Popolo ist ihr nahe, weil in ihrem Konvent Luther auf seiner Romfahrt wohnte und weil ein großes Bild darin, die Bekehrung des Paulus von Caravaggio, ihr evangelisch erscheint in seiner realistischen Direktheit.
So gerät der Spazierenden der Weg, den sie geht und auf dem sie nicht Bildung, sondern Religion begleitet, zu einem moralisch-ästhetisch-politischen Geisterkampf, zu einer regelrechten Psychomachie. Mecklenburgische Heimatliebe kämpft mit lateinischer Schönheit, schlichter Bibelglaube mit katholischer Machtgebärde, alttestamentarisches Wissen mit aktuellem Antisemitismus, Erleichterung über einen sicheren, wenn auch fremden Ort mit Sehnsucht nach dem Geliebten. Und im Kern des ganzen Gefühlsaufruhrs, der die Frau durch Rom wie auf Flügeln trägt, ruht das Kind, das schon bald das Licht dieser widersprüchlichen Welt erblicken wird – der Autor des Buches. Sein Titel verrät, dass die Frau, von dem es erzählt, seine Mutter ist, die ihn wenige Wochen später in Rom zur Welt brachte.
Liebe in allen Formen, Gattenliebe, Mutterliebe, Heimatliebe, Nächstenliebe, liegt diesem makellosen, klassisch modernen Stück Prosa zugrunde, das nicht umsonst an den Schlussmonolog des „Ulysses“ mit seinem großen Lebens-Ja erinnert. Am Ende übernimmt die Musik das Wort, in dem festlichen deutschen Kirchenkonzert, zu dem die erschöpfte und bewegte Frau sich endlich niederlässt, Musik, die alle Gegensätze ausspielt und ins Gleichgewicht bringt.
(Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 12. Oktober 2006)
Die römische Wanderin und ihr Schatten
F. C. Delius malt ein großes Zeitbild auf kleinem Raum
Eine einundzwanzigjährige Frau geht durch die Stadt Rom. Sie ist auf dem Weg zu einem Konzert in der evangelischen Kirche in der Via Sicilia. Die Frau ist erst kürzlich aus Mecklenburg nach Rom gekommen, weil ihr Mann dorthin versetzt worden war. Dieser Mann aber ist, einer Verwundung zum Trotz, neun Wochen zuvor überraschend nach Tunis abkommandiert worden, seine Heimkehr bleibt ungewiß. Sie ist allein, und sie ist im achten Monat schwanger. Es ist fünfzehn Uhr. Es ist ein Samstag im Januar 1943.
Der Gang der Dinge: Das ist in F.C. Delius‘ Erzählung dieser Weg durch eine Stadt, dem die Erzählung folgt und deren inneren Bewegungen sie sich anschmiegt – in der Unmittelbarkeit sensibler Einfühlung und in der distanzwahrenden Diskretion der dritten Person Singular. Eine knappe Stunde wird die junge Frau brauchen vom Verlassen ihrer Wohnung bis zur Ankunft in der Kirche. Von der ersten bis zur einhundertsechsten Seite dauert dieser Weg, dann folgt auf den letzten zwanzig die Schilderung des Kirchenkonzerts, auf das der Text mit seiner Heldin zuläuft. Und er endet mit dem Ausblick auf den Abend, an dem sie dies alles für ihren fernen Ehemann aufschreiben wird, „in einem langen, langen Brief“.
Der Schlußpunkt ist der erste und einzige Punkt im ruhigen Fortschreiten dieser Prosa, die bis dahin allein durch die Kommata und Leerzeilen gegliedert wird. Nur wenige Zeilen umfaßt jeder der ineinander übergehenden Absätze, die dem Weg der Wanderin folgen, sich im leichten Rhythmus ihres Gangs bewegen, eilig und verharrend, angstvoll hastend und beruhigt schlendernd und so trittsicher zwischen den naheliegenden Gefährdungen der Sentimentalisierung oder der Denunziation seiner Figur, wie es nur einem völlig souveränen Wanderer gelingt.
Delius ist ein Nachfolger Wolfgang Koeppens, im schönsten Sinne: mit dessen Gespür für musikalische Phrasierung, für Leitmotivik und das rhythmische Gefälle der Assoziationen, aber ohne Manierismen. So beiläufig und genau, wie er seine Stadtansichten historisch situiert – nur im Augenwinkel werden die politischen Plakate und die „Radfahrer in schwarzen Hemden“ sichtbar, das genügt -, wie er den Wechsel des Lichts während dieser Nachmittagsstunden protokolliert, so aufmerksam beobachtet er seine Heldin. Was immer er an Kunstmitteln aufbietet, es wird ganz durchsichtig auf diese in ihrer Selbstlosigkeit wie in ihrer Selbstwerdung anrührende Gestalt, eine Taube im römischen Gras.
Aufgewachsen ist diese deutsche Tochter in einer Gutsherrenfamilie des mecklenburgischen Landadels. Ihr Vater, einst Korvettenkapitän der kaiserlichen Marine, tut nun Dienst im Marineamt zu Kiel, ein lutherischer Diener der Obrigkeit und „glaubensstrenger Volksmissionar“. Auch der junge Ehemann hätte seinen Platz eigentlich auf der evangelischen Kanzel in der katholischen Hauptstadt.
In der Vergegenwärtigung dieser norddeutsch-protestantischen Sprachwelt bewährt sich am eindrucksvollsten die Balance von sympathetischem Verstehen und leise ironischer Distanz, die F.C. Delius‘ Erzählung ausmacht. Im Umgang mit den Zitaten aus Gesangbuch und Psalter (und dazwischen Versen des Börries von Münchhausen), in Wortwahl und Satzbau stimmt hier jedes Wort: wie sich die Kindheitserinnerungen aus Doberan mit den römischen Szenerien vermischen, wie das Bild der deutschen Wartburg sich vor das der Peterskirche schiebt, wie die Beunruhigte sich „getröstet und geführt und gehalten“ weiß vom Glauben und ihre Gedanken „im Herzen bewahren“ will. (Daß sie in Rom bei den Kaiserswerther Diakonissen wohnt, versteht sich fast von selbst.) Und so nebenbei und indirekt wie fast alles Wesentliche erfahren wir, daß dieses deutsche Mädchen Margarete heißt.
Wenn Delius die Gedankenfragmente seiner Heldin mit Zitaten aus Bibel, Kirchenliedern und Kriegsberichten montiert, dann macht er die Stimmen hörbar, die mit von außen kommen und sich wie von innen anhören, die im Ich umgehen wie Wiedergänger und zwischen denen hindurch es einen Weg finden muß, der sein eigener ist. Denn kaum merklich ist dies auch die Geschichte des zögernden Beginns einer Emanzipation. Die Tochter, die hier zur Mutter wird, ist geschult an „deutscher Ordnung oder an frommer Ordentlichkeit“; sie weiß vor allem, „was sie alles nie lernen und verstehen würde“, findet sich folglich ungebildet zwischen den deutschen Kunstfreunden und Diplomaten in Rom und hat doch gerade deshalb einen offenen Blick.
Mit jedem Schritt klärt sich im Fluß der Assoziationen und Themenwechsel ihr Blick auf sich selbst und die Welt. Hat sie sich zu Beginn ihres Weges noch die Frage verboten, warum bei fortwährenden Siegen eigentlich das Brot immer knapper werde („so durfte man nicht fragen, es war eine Prüfung“), hat sie noch um den Sieg für Volk und Führer gebetet; so fällt ihr Blick im Gehen zurück auf den „ganzen Weg, den sie gekommen war“, und mit jedem Schritt werden die „Versuchungen“ der aufsässigen Gedanken schwerer abzuweisen. Erst während des Konzerts erreicht der Umstand ihr Bewußtsein, daß ja Stalingrad „jetzt in aller Munde“ sei. Und obwohl man darüber doch „nicht sprechen durfte“, erwacht ihre Neugier darauf, wo eigentlich die Juden geblieben seien hier in Rom. Mit dieser Frage aber stellt sich die Mahnung des Vaters ein, dem Führer die Gefolgschaft zu verweigern, wenn er „sich über Gott erhebt“: die kategoriale Differenz zwischen der Nennung Gottes auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten und im Gesangbuch, zwischen BDM und Bibelstunde, zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche. So unaufdringlich wie nur möglich wird diese beginnende Läuterung notiert, an deren Ende der „schmale Weg“, zu dem die Monatslosung mahnt, als ein möglicher Weg in die Freiheit erkennbar wird. Vor sich selbst „Respekt“ zu haben – einmal hat dieser „eitle Gedanke“ doch das Wort gehabt, ehe sie ihn eilig wieder beiseite schiebt, ebenso wie das Eingeständnis einer Sehnsucht, die erst mit der Rückkehr ihres Mannes zu stillen wäre. Denn die Öffnung des Blicks geht hier einher mit der erinnerten Liebesgeschichte; sie kulminiert hier, komisch und rührend zugleich, in „der vorsichtigen Frage, ob er denn schon das Du anbieten dürfe“.
Am Ende erhebt sich die Apotheose der Bachschen Musik, unterbrochen durch Haydns weltlich-widerständiges Streichquartett. Man liest eine solche Kontrastierung nicht zum ersten Mal, diese Engführung von Kriegsangst und Klangzauber, von Albtraumerinnerungen und einer Friedensvision, die aus dem Inneren der Musik aufzusteigen scheint. Aber man liest sie hier mit einer Bewegung, die sich der langen und behutsamen Hinführung ebenso verdankt wie der diskreten Doppelperspektive von Innen- und Außensicht; umso mehr, als auch hier ein Vorbehalt als Vorhalt bleibt. Denn noch im solidarischen Nachvollzug wird die seelische Bewegung in die Versatzstücke zerlegt, deren sie sich in Ermangelung anderer Bilder bedienen muß: die Heimatkunst-Bilder vom guten Leben, die Illustrationen der Kinderbibel.
„Bildnis der Mutter als junge Frau“ ist diese Geschichte überschrieben. Das Kind, das sie erwartet, ist jetzt der Erzähler, der dies alles imaginiert. Man vergißt es, weil dieser Erzähler von sich absieht, weil er ganz Auge und Ohr für seine Heldin ist. Gerade dank dieser unsentimentalen Selbstlosigkeit aber wird seine Geschichte zum großen Zeitbild auf kleinem Raum. Am Ende ist der Leser wie die römische Spaziergängerin „jeden einzelnen Schritt mit Vergnügen gelaufen, aber eine längere Strecke wäre zu viel gewesen, es war genau die richtige Entfernung“.
(Heinrich Detering, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Literaturbeilage, 4. Oktober 2006)
Mutter-Bild: Schreiben aus dem Uterus
Friedrich Christian Delius geht der Frage nach: Wer bin ich, wo komme ich her? Seine Mutter, eine Mecklenburgerin, geht der Liebe wegen nach Rom: das ist die Geburtsstadt des Autors und der Ausgangspunkt der autobiografischen Selbsterkundung.
Die Steine des Kolosseums in Rom haben schon unzählige Lebensgeschichten an sich vorüber ziehen sehen. Wie wäre es, wenn ein Dichter in den Uterus der eigenen Mutter kröche, wenige Wochen vor der eigenen Geburt, und einen Tag, einige Stunden lang ihre Bewegungen, Stimmungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen und Selbstgespräche mitbekäme und das dann aufschriebe in einem einzigen, wunderbar schwingenden Satz von äußerster Klarheit und sprachlicher Eleganz über 120 Seiten hin, der mit dem Vorsatz der Mutter endet, einen langen, langen Brief zu schreiben an den Mann, der nach Afrika musste, denn es ist Krieg, während sie in Rom, der Ewigen Stadt, halbwegs behütet bei deutschen Diakonissen ihr Kind erwarten kann, den Sohn, der 63 Jahre später ihre Geschichte aufschreiben wird?
Ja, wie wäre es? Es wäre wie bei Friedrich Christian Delius‘ „Bildnis der Mutter als junge Frau“. Ihm gelingt das Wunder dieser Erzählperspektive, die es ermöglicht, die autobiografische Selbsterkundung, durch teilnehmende Beobachtung pränatal auszudehnen. Denn natürlich geht es Delius‘ um die Frage: Wer bin ich, wo komme ich her?
Mutter lebt in einem Diakonissenheim
Er kommt aus dem Krieg, aus Rom und aus einer Frau. Die drei Herkünfte stehen in einem ungewöhnlichen Verhältnis, quer zu allem, was die geschichtliche Erinnerung und ihre künstlerische oder mediale Verarbeitung gemeinhin vorgeben. Der Krieg ist weit weg, aber der Grund für die junge Mecklenburgerin, in die alte Stadt Rom zu gehen, wo sie ihren verwundungsbedingt in der Etappe eingesetzten Verlobten heiratet und hofft, die Freuden der Liebe und der Kunst zu genießen. Aber dann, nur zwei Tage nach der Hochzeit, muss der Mann doch nach Afrika.
Die Frau lebt in einem Diakonissenheim unter freundlichen und fürsorglichen Menschen. Gegen alle Zweifel hält sie an der Überzeugung fest, dass der Krieg nur einen Aufschub des Glücks bedeutet. Und bis das große Glück kommt, das angemessene, das in der bürgerlichen Ordnung beschlossene, nascht sie kleine Glückshappen.
Warten auf den Geliebten in Rom
Ebenso neugierig wie ahnungslos lernt sie die fremde Stadt und die fremde Mentalität ihrer Bewohner kennen. Immer wieder ruft sie sich die wenigen Schlüsselszenen ihres kurzen Eheglücks in Erinnerung, das Kennenlernen am Fuße der Wartburg, die Verlobung, den Schmerz, als ihr Mann ihr bei einem romantischen Spaziergang auf dem Pincio eröffnet, dass er nicht bleiben kann.
Aber auch über den Krieg und die Politik macht sie sich Gedanken, keine aufrührerischen, keine besonders intelligenten, Gedanken eben einer jungen Frau aus der bürgerlichen deutschen Provinz, wo man vielleicht ein indifferentes Verhältnis zu Demokratie und Diktatur, nicht aber zu Konfessionsfragen hatte. Die junge Frau, die Delius porträtiert, ist eine tief gläubige Protestantin. Rom aktiviert diese konfessionelle Prägung. Die Apotheose der Erzählung führt in ein deutsches Kirchenkonzert, in den Trost, den die Kantaten Johann Sebastian Bachs spenden.
Delius ist ein kleines Meisterwerk gelungen. Am Beginn der Lektüre mögen Zweifel bestehen, ob der kühne Satzbogen denn tragfähig sei. Doch diese Zweifel werden ebenso schnell zerstreut wie die Befürchtung, dass das literarische Verfahren, das Delius bei „Die Birnen von Ribbeck“ schon einmal angewendet hat, sich als Manierismus erweisen könnte. Nein, Spannung und Elastizität dieses langen Satzes, dieser großartigen Erzählung sind gewaltig.
(Eckhard Fuhr, Literarische Welt, 30. September 2006)
Die ganze Wartburg im Kopf
Ein kleines Meisterwerk: Das „Bildnis der Mutter als junge Frau“ von Friedrich Christian Delius ist eine Liebeserklärung an die Stadt Rom und an die Mutter.
Eltern sind immer ein Rätsel. Man kennt sie so gut wie nur wenige Menschen, und doch bleibt immer der unerklärte Rest, dieses Leben, das sie hatten, bevor sie Eltern wurden, ein Leben, das ausschließlich ihres war, in dem man selbst nicht vorkam. Eltern sind das, was bei Jim Knopf „Scheinriese“ genannt wird: Personen, die von anfänglich überwältigender Größe zunehmend auf gewöhnliches Menschenmaß schrumpfen. Aber die einstige Größe, die ihnen ermöglicht hat, einen herumzutragen, zu füttern und zu erziehen, verhindert für alle Zeiten eine wirklich ausgeglichene Perspektive.
Das neue kleine Buch von Friedrich Christian Delius, Jahrgang 1943, ist ein Versuch, sich auf Augenhöhe mit der Mutter zu begeben, als sie noch keine war, sondern eine verliebte und schwangere junge Frau in Zeiten des Krieges. Im Januar 1943 wartet sie in Rom auf die Geburt ihres ersten Kindes – und auf ihren Mann, der an die nordafrikanische Front kommandiert wurde. „Laufen Sie, junge Frau, laufen Sie“, hat der Arzt ihr geraten, und das tut sie, mit kindlicher Tapferkeit, aber nur auf Wegen von einem sicheren und vertrauten Hafen zum andern. Sicher ist das evangelische Diakonissenheim, wo sie sich mit einer anderen Soldatenfrau ein Zimmer teilt, oder die Kirche der deutschen lutherischen Gemeinde.
Wir haben es hier nicht nur mit der reizvollen erzählerischen Spekulation eines längst erwachsenen Kindes über seine Mutter zu tun, sondern mit einer – nennen wir es vorsichtig: Betrachtung des deutschen Protestantismus vor dem ästhetischen und historischen Hintergrund der Stadt Rom und des Zweiten Weltkriegs. Wer sich mit den elterlichen Scheinriesen der Kriegsgeneration beschäftigt, wird deren Haltung zu Krieg und Nationalsozialismus immer miteinbeziehen müssen.
Die Glaubenslosigkeit und Liederlichkeit der Katholiken
Was es bedeuten mag, „die ganze Wartburg im Kopf durch Rom zu tragen“, lotet Delius in vielerlei Aspekten aus – und hält sich dabei streng an seine Rollenvorgabe: eine naive 21-jährige Predigerstochter aus Bad Doberan an der Ostsee mit entsprechend einseitiger Bildung, die, zum ersten Mal in ihrem Leben im Ausland und auf sich selbst gestellt, Eindrücke empfängt, die in ihrer bisherigen Welt nicht vorkamen. Ihr Mann, der Militärpfarrer in Rom war, hat ihr manch eine lutherisch sattelfeste Erklärung und kunsthistorische Erläuterung dazu gegeben. Diese und ihre eigenen beunruhigenden Fragen über Krieg und Nationalsozialismus trägt sie mit sich beim Gehen durch Rom. Aufmerksam und beeindruckt ist sie, das ja, aber durchaus misstrauisch und nicht frei von protestantischer Selbstgefälligkeit) ob der römischen „Verschwendungspracht, Glaubenslosigkeit und Liederlichkeit“, die weiland den Mönch Luther bei seinem Rombesuch entsetzten. Weniger neugierig als nachdenklich versucht sie, manchmal mit Mühe, ihr inneres Gleichgewicht zu halten: Aufrecht, das ist auch so ein protestantisches Wort. Die großen Choräle begleiten sie, Ein feste Burg ist unser Gott die Marschmusik, die ihren Schritten Rhythmus und Zielstrebigkeit verleiht. So wandert sie durch die Straßen Roms bis zum Pincio und zur Via Sicilia hinauf.
Die Farben und das Licht, die Fassaden und die Brunnen
Das Buch dauert nur diesen einen Weg lang und besteht aus dem durch unmittelbare Sinneseindrücke, Bibelzitate, Erinnerungen, Sehnsüchte, Zweifel und Überzeugungen in Gang gehaltenen Gedankenfluss. Delius hat dafür eine sehr überzeugende Form gefunden: Die feine, rhythmische Prosa ist unterteilt in kleine Abschnitte – nicht durch Satzzeichen voneinander getrennt, sondern durch Unterbrechungen, die so etwas Beiläufiges wie Atemholen verursacht haben könnten oder eine kleine Bewegung des Kopfes beim Schauen, ein vom Bordstein treten oder ein um die Ecke Biegen. So stellt der Text, ohne Punkt über 120 Seiten, das Denken im Gehen nach. Und Denken ist eine Angelegenheit loser Fäden und gelegentlicher Knoten, es ist voller Sprünge und Betrug, voller Widersprüche, Kühnheiten und blinder Flecke. Es schreibend abzubilden, sodass etwas Lesbares herauskommt, war ein Lieblingsprojekt der literarischen Moderne. Delius versucht hier nichts Neues und liebäugelt nicht mit alt gewordenen Avantgarden. Sein Kompromiss zwischen Verstehbarkeit, Schönheit und Authentizität löst das literarische Problem auf elegante und erstaunlich harmonische Weise. Am eindrucksvollsten gelingt ihm das, wenn er, im Kirchenkonzert am Ende, Musik und Denken zu einem gefühlvollen Höhepunkt zusammenführt.
Oft hat dieser Autor seine Protagonisten über den Parcours moralischer Entscheidungen und politischer Ideologien geschickt. Wie viele seiner Generation pflegt er die protestantische Ethik in ihrer linken Ausformung. Dieses Buch, als Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt der deutschen Lutheraner, ist in gewisser Hinsicht ein Grundsatztext, aber es ist eben auch eine liebevolle Hommage an die Frau, die diese Welt in sich trägt – und den zukünftigen Autor als ungeborenes Kind. Die Einblicke, die jener ihr nun so viele Jahrzehnte später zuschreibt, sind selbstverständlich die seinen: die Farben und das Licht, die Fassaden und die Brunnen Roms. Aber die Überzeugungen sind ihre, ebenso die innere Kraft – und die Beschränktheit, die aus ihnen erwachsen. Ob sie wirklich so war, die mütterliche Scheinriesin, weiß keiner, aber sie könnte, ganz bestimmt, so gewesen sein.
(Katharina Döbler, Die Zeit, Nr. 46, 9. November 2006)