Gedichte Ein Bankier auf der Flucht
Ein Bankier auf der Flucht
Gedichte und Reisebilder
72 Seiten, Rotbuch Berlin 1975
(Rotbuch in Sabine Groenewold Verlage, 5.Aufl. 1981)
3,60 € [D] / 3,80 € [A] / 7,00 sFr
ISBN 978-3-880-22144-4
Nur noch antiquarisch erhältlich (ZVAB)
Fast alle Gedichte dieses Bandes finden sich
in dem Auswahlband der Werkausgabe
„Unsichtbare Blitze. Ausgewählte Gedichte“
EIN BANKIER AUF DER FLUCHT
Ganz sicher, er war es. Vor kurzem noch im Fernsehn,
jetzt sehn wir ihn im Schwarzwald zu Fuß
und abgehetzt, Dreck an den Schuhn, sehn ihn allein
mit einem Koffer, Richtung Süden, kein Gespenst.
Schweiz oder Liechtenstein? Warum hat er nicht
wenigstens seinen Chauffeur bei sich und
den Mercedes? Warum nimmt er nicht die Bahn? Warum
vertraut er sich nicht einem ortskundigen Landwirt an?
Warum dieser ängstliche Blick, diese Hast?
Ein Wanderer würde anders laufen und ohne
diesen Koffer. Wer vor seiner Frau oder Geliebten
abhaut, haut nicht über Feldwege ab.
Warum schlägt er den Mantelkragen hoch?
Erschrickt der vor uns? Seit wann gehören
Bankiers zu den Angsthasen? Kommen jetzt noch mehr
flüchtende Bankchefs hier vorbei und stören
Spaziergänger auf? Schreiben wir das Jahr 74 oder
1929 oder 1986, oder was ist hier eigentlich los?
(1974)
Pressestimmen:
„Wieviel wir aushalten, ich weiß es nicht“
Neue Gedichte von F.C. Delius
Es gibt viele Schriftsteller, die schreiben, um sich selber zu täuschen. Bei F.C. Delius habe ich nie diesen Eindruck gehabt. Aus seinen Arbeiten lese ich den Wunsch heraus nach direktem Kontakt mit dem Leben, den Wunsch nach einem Leben, in dem man alles sagen und tun kann ohne Angst und Verstellungen. Der da spricht, sagt nicht „Ich“, um immer neue Rollen auszuprobieren, um seine Phantasien in eine utopische Zukunft zu verschieben, denn Delius weiß sehr wohl – und sagt es in vielen seiner Gedichte -, daß man sich um sein Leben und seine wahren Möglichkeiten betrügt, wenn man auf die gegenwärtige Wirklichkeit immer nur mit Einbildungen einer besseren Zukunft antwortet; daß wir ein falsches Selbst aufbauen, wenn wir uns immer nur auf die Erwartungen der anderen einzustellen versuchen, und daß wir in diesem falschen Selbstsystem dann nichts realisieren können, keine Gegenwart und auch keine Zukunft, keinen wirklichen Kontakt mit den anderen und auch keinen Kontakt mit uns selbst. Das wir also, um die Zukunft zu erreichen, erst einmal die Gegenwart erreichen müssen, weil wir nämlich bisher hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben sind – das ist eine der wichtigsten Aussagen, die ich aus den Gedichten von Delius herauslese.
Sie steckt etwa in dem Gedicht von „der jungen Frau im Antiquitätenladen“, das Delius‘ neuem Gedichtband „Ein Bankier auf der Flucht“ eröffnet. Ich möchte es hier vollständig zitieren, um das Buch erst einmal an einem konkreten Beispiel zeigen zu können:
Zwischen dem üblichen Kram
(den ich nicht weiter aufzähle)
steht die junge Frau
(die eine andere Gesellschaft will,
aber nicht weiß, ob sie
den Mann zuhaus noch will,
der auch eine andere Gesellschaft will)
und sieht sich um und
steht vor dem Antiquitätenhändler
(der ihre Zuneigung weckt, indem
er ihr sehr altes Spielzeug vorführt,
der keine andre Gesellschaft will,
ihr aber die Enttäuschung ansieht).
So steht sie unschlüssig und
schon bereit, sich ihm hinzugeben,
weil er von ihr was zu kapieren scheint,
dreht dann aber doch ab und
macht die Tür von außen zu.
Mit ist bei diesem Gedicht ein anderes Gedicht eingefallen, eins von Walt Whitman: „Fremdling, wenn Du mich im Vorbeigehen triffst und hast ein Verlangen, zu mir zu reden, warum solltest Du nicht zu mir reden. Und warum sollte ich nicht reden zu Dir?“ Dieses Verlangen taucht in vielen Gedichten von Delius auf, und zugleich ist dann immer von den Lebensverhinderungen die Rede, sowohl von den großen, die die Gesellschaft produziert, als auch von den kleinen Zusammenbrüchen im Innern. Über Ernst S. Steffen, der 1970 34jährig bei einem Autounfall ums Leben kann, erzählt Delius zum Beispiel, wie Steffen in München „im Haus des Kritikers B.“, den „und die anderen Kulturmiezen“ damit empörte, daß er Beethoven auflegte und nachholte, „was ihn das Zuchthaus, ein prügelnder Vater und / Freundinnen in Dörfern bei Bruchsal nicht hören ließen“, und so soll er da gestanden haben, erzählt Delius, er „guckte, ließ sich auch nicht / mit Sekt und Lachs beliefern und stellte keiner / Buchhändlerin nach (ich weiß, wie sauer er war, / morgens um vier, als es ihm nicht gelang, / eine Dozentin für Politische Wissenschaften, mit der er lange korrespondiert hatte und die / sich mehr für seinen Fall als für ihn interessierte, / ins Bett zu ziehen), so stand er auf der Treppe, / von uns beschissen, sah uns zu, und das war klar / Verachtung.“
Oder ein anderes Beispiel: Delius, wie er auf dem Stuttgarter Schloßplatz steht, mit seinen Erinnerungen an die Gegenwart (den Siemens-Prozeß – „ein bißchen Wahrheit, und schon / setzten sie ihre Apparate ingang und / verändern dein Leben, / da hockst du plötzlich in öden Gerichtsfluren – und Anwaltsbüros rum und rennst / immer neuen Terminen hinterher“), und er eine junge Schwarze sieht und den „kleinen Wunsch“ hat, mit ihr im Auto durch die Schwäbische Alb zu kurven und zu hören, was sie dazu sagt.
Oder, noch ein anderes Beispiel: wie Delius in ein Maklerbüro kommt und dort eine Genossin, eine arbeitslose Soziologin, „an der Freundlichkeit“ erkennt, „da braucht es kein Parteiabzeichen“; wie sie ihn später beim Kaffee vor der Illusion warnt, in Maklerbüros gäbe es eine linke Basis.
Es sind immer diese kleinen Sachen, die in ihm etwas auslösen: Kaffee, der Wunsch nach Duschen, Musik, Freunde, Bücher, Essen, Gespräche; Gespräche – da sagt einer, daß bei Gerichtsverhandlungen in Kuba auch Zuhörer gefragt werden; da sitzt man im VW auf der Autobahn Frankfurt-Mannheim, im Stau, und ein Mädchen holt Blochs Aufsätze zur Literatur aus der Tasche, und am Ende sagt der Erzähler – und beharrt darauf -: „Gedichte sind für mich wie Scheibenwischer“; da sitzt Delius in Rom und schreibt einen Gedicht-Brief an Nicolas Born in Berlin, erzählt darin, was er sieht, hört, riecht, schmeckt, hofft, befürchtet, und dieser Brief endet so: „wieder dieser lächerliche Wunsch: möglichst viel um mich / rum mit sämtlichen Sinnen aufzuspießen / wahrzunehmen / zu verstehn – „.
Was diesem Wunsch entgegensteht, (auch) davon erzählen diese Gedichte. Und sie erzählen, auch von Delius. Doch die Subjektivität, die sich in diesen Texten ausdrückt, ist eine andere, als die im Augenblick landläufige Subjektivität. Betonen die meisten Schriftsteller zur Zeit das „Ich“ gerade deshalb, um nicht von sich reden zu müssen (denn wenn sie „Ich“ sagen, meinen sie in Wirklichkeit ja einen anderen, den sie zwar aus sich selbst herausholen, aber dieser andere kommt mir in den meisten Fällen wie eine Märchenfigur vor, die man herumschieben kann, und diese Bücher wirken dann wie ein Identitätsbaukasten ihres Autors), so meint Delius, wenn er „Ich“ sagt – und er sagt es oft – , nie einen anderen in sich. Er meint die anderen, die draußen in der Landschaft herumlaufen, und keine Spielfiguren, zu denen er sich in Beziehung setzen will: ein anderer etwa wie der Attentäter Weil, „der sich, / wie ich später hörte, mit Hilfe der Polizei / loßriß von der Polizei kurz vorm Verhör“ und plötzlich vor Delius‘ Tür steht: „Was tu ich / mit einem einzelnen Faschisten, was.“
Man kann diese Gedichte lesen als eine Selbstbiographie von Delius; und von uns. Wie wir im alltäglichen Leben mit uns umgehen (und mit anderen), wie wir immer wieder vor unseren eigenen (und anderen) Problemen ausweichen, auch das steht in diesen Gedichten; die kleinen und großen Zusammenbrüche: „Die große Schwierigkeit, sich nützlich zu machen, / ist nicht die größte. Die schlimmsten Augenblicke, / die Probleme des Klassenverrats kommen erst noch. / Wieviel wir aushalten, weiß ich nicht. / Wie spärlich unsere Kräfte sind, bestimmen / nicht wir. Unsere unfertigen Liebesgeschichten / mit der Politik schreiben nicht wir zu Ende.“
Daß hier nicht jemand schreibt, um sich selber zu täuschen, kommt deutlich heraus. Hier schreibt jemand, um seine Beziehungen zu den anderen zu konkretisieren; hier schreibt sich jemand nicht in seine Phantasien hinein, sondern aus seinen Phantasien heraus, ohne sie zu verraten. Identität (auch politische Identität), das machen diese Gedichte deutlich, erfordert nicht eine imaginäre phantastische Beziehung zu sich selbst (und davon ist in der gegenwärtigen Literatur ja fast nur noch die Rede), sondern konkrete Beziehungen zu anderen. So eine konkrete Beziehung, mag sein, ist nüchterner, auch vielleicht weniger faszinierend und in jedem Fall anstrengender; doch wenn sie gelingt, dann ist es eine reale tiefsitzende Befriedigung, und vor allem ist dann nicht von vornherein eine Selbsttäuschung dabei.
Wenn ich den Ton dieser Gedichte bezeichnen müßte, so fiele mir nur das Wort „nüchtern“ („ernüchternd“) ein. Es ist eine nüchterne – also keine versponnene, um und in sich selbst kreisende – Sinnlichkeit in diesen Texten, was nicht heißen soll, daß diese Gedichte eindeutig sind. Im Gegenteil. Diesen Gedichten kommt es nicht auf Pointen an oder Sentenzen, wo man sagen könnte: so, das ist es jetzt, das habe ich jetzt erkannt, jetzt kann ich weitergehen. Es sind vielmehr wirklich „Gedichte wie Scheibenwischer“, dieses Bild hat mich sehr überzeugt: Momente also, wo man etwas undeutlich erkennt und etwa durch ein Gedicht gehen muß, um die Erscheinungen konkreter erfassen zu können; doch um dies zu können, muß der Leser erst mit seinen eigenen Erinnerungen und Vorstellungen (auch von sich selber) in diese Gedichte hineinreden, und das kann er auch, denn Delius läßt ihm diese Freiheit.
Nüchtern, habe ich gesagt. Ich meine das auch in dem Sinne, daß diese Gedichte ohne großes rhetorisches Pathos auskommen, sie sind ganz locker geschrieben. Wie stark Delius‘ Wunsch ist, ohne Selbsttäuschungen zu leben wird übrigens deutlich, wenn er für seinen Ehrgeiz, die Gedichte „möglichst ernst zu schreiben und zugleich möglichst leicht“, noch die Frage übrig hat, „wieviel Verdrängung noch in meinem Ehrgeiz steckt?“
(Christian Linder, Frankfurter Rundschau, 11.10.1975)